Christus nachgehen
[9] Einleitung
In den Junitagen 1979, bevor ich zum Symposium der europäischen Bischöfe nach Rom fuhr, bewegten mich drei Begebenheiten, die mit Jugend zu tun hatten. Einmal die Nachricht von der Verwüstung des Hamburger Fußballstadions nach einem Spiel, bei dem die Leidenschaft der Besucher es beinahe zu einer Katastrophe kommen ließ. Sodann eine Begegnung deutscher mit indischen Bischöfen in Maria Laach, bei der von den „Wallfahrten“ vieler europäischer Jugendlicher nach Indien die Rede war, die dort eine Alternative zu ihrem ihnen sinnlos, zukunftslos erscheinenden Leben in Europa suchen. Schließlich meine eigene Erfahrung auf dem Weg über das Nürnberger Kirchentagsgelände, wo ich ungezählten Jugendlichen begegnete, die – äußerlich und innerlich – in entgegengesetzten Richtungen unterwegs waren zu etwas, das sie fesselte, faszinierte, ihnen Hoffnung gibt und Perspektiven eröffnete.
Eindringen über alle Absperrungen und Barrieren ins Spielfeld, Ausbrechen aus gewohnten Räumen in eine unfaßbare Ferne, Unterwegssein nach dem Irgendwo, das Sinn gibt: spiegeln sich da nicht die Chancen und die Bedrohungen, die Ängste und die [10] Zuversicht junger Generation? Und spielt sich uns hier nicht ein Stichwort für das zu, was es zu suchen und zu finden gilt im Fragen, Weisen, Versuchen und Mitgehen? Das Stichwort Weg?
Mit diesen Gedanken und Eindrücken kam ich nach Rom. Das erste Thema, eingeleitet durch Erzbischof Torrella Cascante und vielfältig angeleuchtet aus der Perspektive der Teilnehmer aus beinahe allen Ländern Europas: Situation der Jugend. Gibt es die Jugend in Europa überhaupt? Müssen wir nicht unterschiedliche gesellschaftliche Milieus und Verhältnisse und müssen nicht überall grundverschiedene Orientierungen junger Menschen auseinanderhalten? Aber anderseits: unterscheidet sich Jugend überhaupt von der Gesellschaft, oder ist das, was wir an der Jugend beobachten, nicht einfach Zeichen der Zeit? Dennoch, in den unterschiedlichen Bedingungen wiederholt sich offenbar ein selber Rhythmus allüberall unter jungen Menschen, ein Rhythmus des Lebens und Glaubens oder Nichtlebens und Nichtglaubens. Und dieser Rhythmus ist in der Tat zwar kein anderer als jener, den das Leben, den die Gesellschaft insgesamt hörbar macht – doch in der Jugend ist er am wenigsten zu überhören und reißt er am bedrängendsten die Fragen auf nach der Zukunft überhaupt.
Grundlegende Unterschiede zwischen Süd und Nord, Ost und West konnten kaum mehr festgestellt [11] werden. Das allgemeine Bild hat andere Proportionen allenfalls in Irland und Polen. Doch im Ansatz scheint es überall so zu sein: Auf eine Epoche harten Ungestüms, die Gesellschaft aktiv zu ändern und eine neue Gesellschaft herbeizuzwingen, auf eine Epoche der oft bitteren und energischen, aber im Grunde nicht gebrochenen Zuversicht, etwas bewirken und etwas verändern zu können, folgt eine seit der Mitte der 70er Jahre, auffällig eindeutig seit der großen Energiekrise, eine andere „Welle“. An die Stelle der skeptischen ist die „sanfte“ Generation getreten, deren Zurückhaltung aber nicht selten Züge der Resignation, vielfach Züge der Angst vor dem trägt, was kommt. Anpassung an die Gesellschaft, um doch mitzukommen, auch wenn man innerlich ihre Formen und Werte ablehnt, oder aber Verweigerung, die nichts zu ändern hofft, aber nicht mitmachen mag, Flucht schließlich Abseits oder in ein Innen, in dem sich überleben läßt, das sind Tendenzen. Freilich fassen sie niemals das Ganze, von ihnen muß aber die Rede sein, wenn man vom anderen spricht, von den Aufbrüchen, von der neuen Bereitschaft zum Spirituellen, vom Sinn fürs Leisere und Tiefere.
Zwei Beobachtungen müssen in diese Skizze noch eingetragen werden – darauf bestanden zumal Vertreter der jungen Generation selbst –, wenn von Spiritualität die Rede ist. Die eine: Von den Institutionen und auch und gerade [12] von der Institution Kirche will der weit überwiegende Teil der jungen Generation nichts wissen, besser: er wird von dem gar nicht berührt und beunruhigt, was sich da tut und wovon da die Rede ist.
Die andere: Auch jene, die mitmachen, auch jene, die sich ergreifen lassen, entdecken nicht selten in ihrem eigenen Leben einen Bruch oder entdecken ihn gerade nicht mehr, empfinden ihn nicht mehr, akzeptieren ihn nicht als Bruch. Gebet, Wallfahrt, Versenkung, Liturgie, auch Worte und Werte des Evangeliums erscheinen kostbar und anziehend – die Normen, die als verbindlich fürs Leben des Christen von der Kirche vorgelegt werden, gelten zugleich als unrealistisch, werden nicht im Ernst als maßgeblich fürs eigene Leben bemüht.
Daß es genau das Entgegengesetzte gibt; daß Enttäuschung und Defätismus die falscheste aller möglichen Reaktionen wäre; daß wir die kleinen Ansätze, die weiterführen, ernst nehmen müssen, die unbefangene Redlichkeit, mit welcher sich heute allenthalben zeigen und darstellen kann, was ist und wie es ist: dies alles schwang im Gespräch ebenso mit. Aber die bedrängende Frage bleib übrig: Wie kommen Kirche und Jugend zusammen, wie auf einen gemeinsamen Weg?
Jugend einfach anders sein lassen, der Jugend oder mehr noch sich selbst die Spannung zwischen unterschiedlichen Vorstellungen und Lebensauffassungen [13] ersparen, entweder eine Sonderwelt aufbauen, in der Jugend so sein mag, wie sie ist, und später kommt dann eben das andere? Oder das Anderssein von Jugend als Fanal nehmen, daß es nicht so sein kann, wie wir bislang meinten und sagten und verkündeten? Sich und seine mitgebrachten Vorstellungen nicht mehr gegenlesen an andere Erfahrungen und Erwartungen einer neu heranwachsenden Generation, das wäre Erstarrung und Verfestigung. Vorstellungen und Erwartungen dieser Generation nicht mehr in der harten Rückfrage herauszufordern, dies aber hieße diese Generation selbst nicht ernst nehmen. Sind nicht alle, die Älteren und Jüngeren, jene, die Tradition wahren und weitergeben, und jene, denen sie fremd und nichtssagend zu sein scheint, gemeinsam überholt durch den Anruf zur bedingungslosen Nachfolge, aber auch durch die ebenso harte wie gnädige Enthüllung, daß wir angewiesen sind auf das je erneuernde Erbarmen Gottes? Sicher, man darf sich mit dieser Aussage nicht beruhigen. Aber zugleich die Zumutung des Ganzen und des Wesentlichen aushalten und die Notwendigkeit aushalten, miteinander, mit der jungen Generation den Weg und die Übersetzung zu finden – diese Spannung ist weder Krampf noch Ausweg.
Ja, fragen wir in das hinein, was junge Menschen nicht mehr mitgehen läßt mit dem Gang von Glaube und Kirche, wie sie weithin erfahren werden. „Mein [14] Leben geht anders, und deswegen geht mich das nichts an!“ oder „So geht es einfach nicht!“ - das sind vielleicht zwei Grundformeln für die Erfahrung der Unbetroffenheit und die Erfahrung des Abschieds.
Angesichts dessen kamen Zeugnisse ins Spiel, Hinweise auf junge Menschen, auf Gruppen, auf Modelle, wie es geht und wie das Ganze, das fordernd und beschenkend Ganze des Evangeliums geht unter jungen Menschen. Doch sind das nicht nur wenige? Sind es am Ende gar solche, bei denen es auch ohne die neuen Bewegungen und Gründungen und Gruppen und Gestalten ginge? Müssen wir uns nicht um die vielen, um jene kümmern, die bei diesen Bewegungen und Gruppen und Modellen gerade keinen Anschluß finden? Gewiß, das Evangelium ist immer für alle da. Jene, die nicht können, liegen Jesus besonders am Herzen. Dem Jesus freilich, der Menschen herausruft zur besonderen Nachfolge. Und wo er es tut, da leuchtet in ihrem ungewöhnlichen Weg doch genau das auf, was den neuen Weg für viele vorspielt und einspielt ins Bewusstsein. Ohne Zeichen sieht man keinen Weg, ohne Zellen wächst kein Gewebe. Gelebte Aufbrüche, gelebte Zeugnisse als Wegweisung, Lesen gegenwärtiger Erfahrungen und Fragen im Leben des Evangeliums und Lesen des Evangeliums in den Erfahrungen von heute – das ist die Methode. Aber eine, die sich eben nicht nur mit [15] klugen Beobachtungen, Analysen und Reflexionen machen läßt, sondern nur mit Kopf und Füßen zugleich, mit dem Nachdenken und dem Selbergehen des Weges.
Auch wenn es nicht immer so gewesen wäre, müßte es heute so sein. Aber nun ist es eben schon immer so gewesen und deswegen heute dennoch nicht weniger neu. In der Tat ist es auffallend, daß zu allen Zeiten des Umbruchs junge Menschen eine neue Gangart und einen neuen Weg ursprünglichen Christseins aufschlossen. Man lese die Berufung des Wüstenvaters Antonius, man denke an die Mönchsgeschichten Benedikts, an Bernhard von Clairvaux und seine Bewegung, an das, was Franz von Assisi unter der Jugend seiner Generation als junger Mann auslöste, oder auch an die ersten Gefährten eines Ignatius.
Und man denke an noch etwas. Diese vitalen Aufbrüche blieben nie allein vital. Spiritualität, Gemeinschaft und Theologie hingen in unserer christlichen Geschichte immer aufs engste miteinander zusammen. Aus den großen Aufbrüchen wuchsen die großen Theologien, und noch deutlicher ist beinahe dasselbe von der anderen Seite: Große Theologien sind immer Zeugnisse von Weg, von Aufbruch, sind reflektierte Nachfolge, sich selbst hellgewordene Spiritualität. Von Augustin über Anselm zu Thomas und Bonaventura ließe sich die Geschichte davon [16] schreiben, und sie wäre, trotz deutlichem Klimawechsel, in der Neuzeit nicht zu Ende. Allerdings ist ein neuer Klimawechsel dabei, sich abzuzeichnen – wo heute Theologie neu wird, da gewiß aus Nachfolge und als Nachfolge.
Und hier liegt eben auch eine Spur für den Weg, den es mit der jungen Generation und für sie zu suchen gilt. Für sie? Dies sicher auch. Es war eindrucksvoll, wie Bischof Skvorc als praktische Konsequenzen aus allen Überlegungen drei Wegmarken setzte: Jugend ist der Apostel der Jugend, Jugend muß für Jugend den Weg finden und mit Jugend ihn gehen – der neue Weg geht nur im Miteinander, Gemeinschaft ist der Fundort dessen, wie Glaube und Kirche heute gehen – Autorität und Verantwortung sind notwendig, aber nicht als ein bloßes Sagen, wie es geht, sondern als gelebte Zuwendung, als vollmächtige Nähe, die sich einläßt, die sich nicht spart, sondern eben: mitgeht.
Doch in all dem ist schon deutlich, daß nicht eigentlich andere für die Jugend etwas machen, sondern daß dort, wo junge Menschen Evangelium leben, sich ein Weg abzeichnet – für uns.
Auch wenn man es vielleicht den folgenden Seiten beim ersten Lesen nicht anmerkt, so ist doch dies ihre Genese: Erfahrungen junger Menschen mit dem Glauben, Erfahrungen lebendiger Gruppen mit dem Evangelium, Erfahrungen, die aus der Entscheidung [17] junger Menschen für Gott erwachsen sind und andere Menschen mit auf den Weg brachten, gaben den Anstoß, um die Sache des Glaubens, um das Evangelium von sich selber her zu bedenken.
Sicher wurden auch andere Ansätze, andere Perspektiven und Gesichtspunkte als die hier referierten beim römischen Gespräch ins Spiel gebracht. Die Wiedergabe hier ist die einer recht persönlichen Erfahrung. Doch das Letzte und Wichtigste dieser Erfahrung ist für mich selbst vielleicht dies: Die sogenannte „Jugendpastoral“ ist mehr noch als eine Pastoral, die Theologen und Kirchenmänner für die Jugend machen, eine Pastoral, die glaubende, sich für Jesus und die Nachfolge entscheidende Jugend, aber auch Kirche und ihre Gewohnheiten in Frage stellende Jugend für uns alle macht. Und am allermeisten: eine Pastoral, die gar nicht gemacht wird, sondern die ein anderer macht, jener, der in der Mitte junger Menschen und in der Mitte zwischen jungen Menschen lebt, wenn sie sich auf seinen Weg machen.