Linien des Lebens
[9] Unser Wohnproblem
Daß Wohnprobleme heute zu den bedrängendsten überhaupt gehören, steht außer Frage. Der Besuch in einem Heim für Asylbewerber kurz nach einem Brandanschlag hat es mir überdeutlich werden lassen: Menschen müssen wohnen, wo man eigentlich nicht wohnen kann – und nicht einmal da sind sie sicher.
Aber auch bei meinem Besuch in Kolumbien, dem Partnerland des Bistums Aachen: ein paar Steinwürfe weit von den hinter Mauern und Stacheldraht versteckten, von Wachtposten geschützten Bungalows der Reichen in Bogota der abgerutschte Hang, der die Elendshütten aus Blech und Pappe mit in die Tiefe riß.
Ist es da nicht äußerst fragwürdig, von „unserem“ Wohnproblem zu sprechen? Und doch gibt es dieses Wohnproblem – auch und gerade für uns Priester, die wir – nicht selten – prächtige neugotische Pfarrhäuser haben, jeder eines für sich allein. Ich weiß, das ist nicht die ganze Wirklichkeit. Aber viele jüngere Mitbrüder haben es mir schon gesagt, wie die Flucht der hohen Zimmer in ihrem Haus sie in hilflose Einsamkeit drängt. Oder aber: alles steht [10] auf Durchzug, nur ein Kommen und Gehen, doch dazwischen kein Ort für einen, um zu sich selbst zu kommen. Und nochmals anders: das Klappbett in den Büros der drei oder vier Pfarreien, zwischen denen der einzelne sich abhetzt. Wir können in unserem Zusammenhang diese Not nicht auf der „räumlichen“ Ebene angehen. Aber sind solche Wohnprobleme nicht Hinweis auf eine innere Not?
Ich möchte in den Meditationsimpulsen des Jahres 1993 im Pastoralblatt Motive aus dem Johannesevangelium aufgreifen, die, oft gegen den ersten Anschein, hineinsprechen in der Mitbrüder und meine eigene Situation. Da bin ich unwillkürlich stehen geblieben bei jenem Zeitwort ménein, das zugleich „bleiben“ und „wohnen“ heißt und das in den johanneischen Schriften auffällig oft wiederkehrt. Die Botschaft dieses Wortes hat etwas mit unserem Wohn- oder Ortsproblem zu tun. Wo bleiben, wo „wohnen“ wir? Wo ist der Lebensort, der uns hält und trägt?
Ich bin überzeugt, es geht nicht an, diese Frage nur spirituell zu bewältigen, sie ist auch eine Gestaltungsfrage für unsere äußeren Lebensverhältnisse und für unseren Dienst. Aber noch tiefer bin ich davon überzeugt: Fänden wir nur pragmatische Lösungen, so fiele alles doch bald wieder ins Alte zurück. Der innere Ort, das innere Bleiben tun not, [11] damit wir leben, atmen, wir selbst sein, uns frei über uns hinauswagen und verschenken können.
Mich machte im lauten und unsicheren Gewoge der Großstadt Bogota das Kleid der Schwestern vom armen Kinde Jesus betroffen. Auf ihrem Brustkreuz ist zu lesen: Manete in me – „Bleibet in mir“!
Das Johannesevangelium kann uns insgesamt erscheinen wie eine lebendige Theologie des Bleibens und Wohnens. Der ewige Logos, der einzig geliebte Sohn, ruht am Herzen des Vaters (vgl. Joh 1,18) – und er schlägt sein Zelt auf mitten unter uns (vgl. Joh 1,14). Als der Täufer seine Jünger auf ihn hinweist: „Seht das Lamm Gottes!“, gehen diese auf Jesus zu und fragen ihn: „Meister, wo wohnst du?“, und er antwortet: „Kommt und seht!“ (vgl. Joh 1,35–38). Die Einlösung dieser Antwort ist das Evangelium im ganzen. Es entfaltet jenes innerste Geheimnis, das sich in den zwei-einen Satz faßt: Der Sohn ist im Vater, der Vater ist im Sohn (vgl. Joh 10,38). Das gegenseitige Innesein, das Bleiben von Vater und Sohn ineinander – darum schwingt das Ganze der Welt und der Geschichte. In Jesus ist Gott selber zum Wohn- und Bleibeort des Menschen geworden. Der Mensch ist eingelassen in diese gegenseitige Beziehung zwischen Sohn und Vater im Geist. Und alles kommt darauf an, in ihr zu bleiben. Wir bleiben in Gott, und er bleibt in uns, wenn wir in Jesus bleiben, [12] wie der Rebzweig im Rebstock bleibt. Abgeschnitten von ihm, bringt er keine Frucht, er verdorrt in sich selbst (vgl. Joh 15,1–10).
In Jesus bleiben bedeutet aber: bleiben in seinem Wort (vgl. Joh 15,7; 8,31) und bleiben in seiner Liebe (vgl. Joh 15,9f.).
Sein Wort ist nicht eine bloße Mitteilung oder Theorie, sondern ein „Lebens- und Wohnraum“, in dem wir uns bewegen können und der unser Leben durchstimmt und prägt. Dieses Wort drückt Jesus selber aus, schenkt uns Teilhabe an seinem Leben, so daß es in uns eindringt, uns hält und erfüllt. Und dieses Wort vollendet sich im Sakrament, in der Eucharistie. Sie ist Speise, die bleibt zum ewigen Leben (vgl. Joh 6,27).
Im Wort bleiben, aus dem Sakrament leben heißt aber bleiben in seiner Liebe. Denn das Wort, das er sagt, der Leib, den er uns dahingibt, er selber – das ist Liebe, ist Sich-Mitteilen, Sich-Ausliefern, Sich-Loslassen, Sich-Hineingeben in unser Leben. Jesus ist als das Wort jenes Ja, das uns leben läßt, leben aber nur, sofern wir selber uns hineingeben in dieses Ja.
Wenn wir so leben, dann finden nicht nur wir unseren Ort in Gott und seinem Leben, sondern dann wird der Vater mit dem Sohn kommen und Wohnung bei uns nehmen (vgl. Joh 14,23). Wir werden [13] Ort Gottes in der Welt sein können, Ort, der Gott hält und enthält, der aber auch zugleich von Gott gehalten, in ihm enthalten ist.
Der Abschied Jesu von den Seinen ist nicht ein Abbruch seines Bleibens bei uns und unseres Bleibens in ihm, sondern der neue Anfang: Der Vater tut, im Sohn bleibend, sein Werk (vgl. Joh 14,10), und er schickt uns den Geist, der in uns bleibt und so das Bleiben des Sohnes bei uns entdecken läßt (vgl. Joh 14,17).
Eine entscheidende weitere Dimension hat dieses Bleiben und Wohnen. Wir wohnen und bleiben nicht nur im Sohn, wie der Sohn im Vater bleibt und wohnt, sondern dieses Einssein zwischen Vater und Sohn, dieser göttliche Lebensraum will Lebensraum zwischen uns werden, Lebensraum, den wir einander einräumen, auf daß in unserer Einheit der eine Gott sich bezeugen, zum einladenden Lebensraum der Menschen werden kann (vgl. Joh 17,21–23). Es geht nicht nur um unseren individuellen Wohnraum, sondern um jene Gemeinschaft zwischen uns, die Wohnraum für die Menschen, Wohnraum der Menschen beim lebendigen Gott werden soll. Dies ist die Innenseite von Kirche, auf die das Johannesevangelium abhebt.
[14] Wie aus solcher Botschaft leben? Das Wort auf dem Habit der Clara-Fey-Schwestern mitten in der Großstadt zeigt uns eine Spur, „Bleibet in mir!“ – das kann mit uns gehen, wohin wir gehen.
Wenn unsere vielen Termine und Begegnungen durchstimmt werden von diesem Bleiben in seinem Wort und von diesem Bleiben in seiner Liebe, wenn wir uns gegenseitig in diesem Bleiben bestärken und uns von seinem Wort und von seiner Liebe Zeugnis geben, dann wird in uns und zwischen uns etwas sein, das uns nicht weggleiten läßt ins Außen. Eine innere Tiefe und Weite geht in uns auf, auch wenn wir bedrängt und abgehetzt sind. Es gibt ein Sich-Festhalten, Augenblick für Augenblick, am Wort und an der Liebe, das aufs erste als zusätzliche Anstrengung erscheinen mag, bald aber sich erweisen wird als innere Ruhe und Kraft zur Freiheit und Gelassenheit. Bleib in ihm, kehr zu ihm zurück!
Mutter Clara Fey, Gründerin der Schwestern vom armen Kinde Jesus, war ganz und gar orientiert auf den Dienst an Jesus in den Kleinen und Geringen; aber sie hat darin eine nicht nur aktive, sondern zugleich kontemplative Berufung entdeckt. Nur dieser „innere Raum“ ließ sie und die Ihren Wohn- und Bleiberaum eröffnen für die ortlosen, ausgesetzten Kinder, hier wie in Bogota. Bei Jesus bleiben, in ihm bleiben, in den tausend Funktionen und Abläufen, [15] die uns jeder Tag zumutet, ist auch für uns der Ansatz, um einen Ort zu finden und anderen anzubieten, an dem Leben möglich ist, Leben für uns, für die Mitbrüder, für die Gemeinde, für jene, die in innerer wie äußerer Wohnungsnot sind.