Unterscheidungen

[9] Vorbemerkung

Wer unterscheidet, der wahrt. Er steht leicht im Verdacht, nur bewahren zu wollen. Er scheint nicht mitzumachen im Prozeß der umgreifenden Neudeutung des Bisherigen, der Verwandlung des früher Geltenden ins heute Gängige.

Andererseits gehört zur Sprachfamilie des Wortes Unterscheiden von seiner Wurzel her unleugbar das Wort Kritik. Kritik ist Unterscheidung. Daß Kritik sein soll, daran besteht kaum ein Zweifel. Daß nicht alles bleiben darf, wie es ist, gehört zu den heute selbstverständlichen Axiomen. Also doch: Unterscheidung.

Näher besehen, gehört die eben bezeichnete Spannung zum Diagramm unserer Zeit. Einesteils fallen Unterscheidungen recht schwer. Die Verflochtenheit aller mit allen, der Streß der gemeinsamen Anstrengung, ohne die unsere Menschheit nicht leben kann, läßt alle Differenzen, die sich nicht aus dem inneren Programm des Funktionierens von Wirtschaft und Gesellschaft ergeben, als zweitrangig erscheinen. Sie prägen nicht mehr das Bewußtsein; und sofern sie es noch prägen, werden sie weithin als Vorurteile abqualifiziert, da sie ja die reibungslose Kommunikation aller mit allen zu stören drohen. Anderenteils will man auch wieder nicht so sein. Autoritärer Druck ist verpönt. Wenn alles funktioniert, dann mag sich ja schließlich jeder denken, was er will. Ja die Verlagerung des Schwergewichts aller Aktivität auf das reibungslose Funktionieren macht es sogar dem einzelnen wieder leichter, nebenher seine eigenen Anschauungen und Meinungen zu haben. Man erstrebt eine Gesellschaft, die Pluralität ermöglicht; man eröffnet und postuliert den Toleranzraum für Unterschiede. Nur daß diese Unterschiede [10] in solcher Toleranz leicht aufhören, überhaupt noch Unterschiede zu sein. Sie sind nur mehr Spielarten einer sich mit zusätzlichen Deutungen ihrer selbst verzierenden Gleichgültigkeit. Die Gesellschaft hat viele dicht abgeschlossene und getrennte Schließfächer eigener Meinung; was im einen Schließfach liegt, tut dem Inhaber des anderen weder wohl noch wehe; nur daß keiner eben behaupten darf, ihm gehörten alle Schließfächer oder, was er in dem seinen birgt, sei das einzig Wichtige und Richtige.

Das Unbehagen an solcher bloßen Toleranz hat indessen schon längst wieder eingesetzt. Man verdächtigt sie als systemerhaltende Kraft, man spricht vom Kartell der Angst, das die Gegensätze von gestern miteinander eingegangen haben, um gegen den Anspruch des Heute gemeinsam gesichert zu sein. Doch die Abneigung gegen die bloße Toleranz sitzt noch tiefer, bisweilen so tief, daß sie sich unbemerkt gleichzeitig mit der Verteidigung der Toleranz und des Pluralismus artikuliert: Der Mensch verliert in der Verspannung des bloß Funktionalen nicht nur seine eigene Meinung, sondern auch sein Gesicht. Er spürt sich selbst nicht mehr, indem er den Druck der programmierten Anstrengung und des programmierten Konsums verspürt. Er will sich daher profilieren. Angst vor der Unterscheidung, Flucht in eine pure Egalität können durchaus mit jener Sorge ums eigene Profil Hand in Hand gehen, die den Protest kultiviert, die Polarisierung fordert, die spektakuläre Abweichung von der Norm probiert. Verständlich und legitim, man selbst sein zu wollen. Doch wie klar sind die konturierenden Linien? Woher stammen die Maßstäbe, an denen sie mit sich selbst identisch bleiben? Weil ein fester Boden außerhalb der Verstrickung des Funktionierens sich nicht bietet, gewinnen Profilierungen und Akzentuierungen einen plakativen Zuschnitt, sie leben von der Übertreibung, sie machen sich künstlich wichtig, sie übertönen ihre eigene Gleichgültigkeit, gegen die sie protestieren und aus der sie doch stammen.

Wie ist da Unterscheidung möglich, wie unterscheidet sich Unterscheidung, die herausführt aus der Nivellierung, von solcher, die sie nur übertüncht? Und muß Unterscheidung überhaupt sein?

[11] Nun, Unterscheidung geschieht fortwährend. Denn auch wer Unterscheidung als überholt, als hinfällig und gestrig abtut, trifft damit selbst eine Unterscheidung zu dem, was er ablehnt. Und wer nichts ablehnt, der geht in Gegenposition zu dem, der unterscheidet – und ist somit also doch von der Partie. Ein formales Spielchen? Im Grunde mehr. Denn nur die Freiheit hat die Macht, vor sich selbst zu fliehen. Und gerade diese Macht ist ihre Ohnmacht, sich zu entkommen. Wenn es ein unbestrittenes Axiom im Wirrwar der Meinungen und Entwicklungen gibt, dann doch dies: man müsse bemüht sein, seine eigene Position und die der anderen zu durchschauen. Transparenz aber fordert Unterscheidung. Transparenz besagt nicht nur, daß ich mich zu dem verhalte, was ich mir durchsichtig mache, sondern sie besagt ein Verhältnis zu diesem meinem Verhältnis: es will sich klären, es hat einen Maßstab, es ist für sich selbst verantwortlich. Die Leidenschaft für Transparenz ist so Zugeständnis einer fundamentalen Freiheit.

Wenn Unterscheidung immer geschieht und wenn Unterscheidung etwas mit Freiheit zu tun hat, dann ist es dennoch – ja gerade deshalb – noch nicht ausgemacht, was Unterscheidung bedeute und in welchem Sinn Unterscheidung geschehen solle. Es wäre leicht, irgendwelche Postulate aufzustellen. Aber bleiben wir einmal bei dem Motiv der Transparenz. Versuchen wir einen Augenblick lang, einfach zu fragen, was – im scheinbaren Abstoß von allen Aktualitäten – Unterscheidung überhaupt heiße. Wer sich nur einem punktuellen Eindruck hingibt, der unterscheidet nicht. Fixierung, die oft gerade den Anschein scharfer Entschiedenheit, betonten Unterscheidens an sich trägt, verunmöglicht die Unterscheidung gerade. Nur der kann unterscheiden, der „und“ sagen kann. Er kann das eine vom anderen unterscheiden. Er hat den Blick also über das eine hinaus, er ist geöffnet in den Raum, in welchem deswegen das eine nicht das andere ist, weil in ihm das eine und das andere ist.1 Weite, die sich übers Einzelne hinaus ins Ganze gibt, die nicht nur Identifikationen, sondern Beziehungen gewahrt, gehört dazu, damit Unterscheidung gelingen kann.

Das ist aber nur das eine Element. Das andere: Unterscheidung [12] ist nicht nur Unterscheidung des einen vom anderen, sondern auch Unterscheidung des So vom Anders. Sie mißt das Unterschiedene nicht nur an dem, was außerhalb seiner selbst liegt, sie bezieht es nicht nur auf den Raum einer umgreifenden Einheit und Ganzheit, sondern sie sieht in dem, was sie unterscheidet, eine Entscheidung getroffen. Es ist die Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten, von denen nur die eine realisiert wird, oder die Entscheidung zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit, wobei aber die Unmöglichkeit als bewußt ausgeschlossene im Blick ist.

Das klingt ein bißchen formal. Es hat aber höchst aktuelle Bezüge. Fixierung und Entscheidungsschwäche bezeichnen die doppelte Ohnmacht unserer Zeit, zur Unterscheidung und durch die Unterscheidung zu jener Klarheit zu kommen, die weiterträgt. Kontexte sehen, die Dinge freigeben in ihre Zusammenhänge und Bezüge, den Stellenwert des Einzelnen im Ganzen wahrnehmen und auf der anderen Seite die Dinge aus sich selbst heraus aufgehen lassen in ihre eigene Kontur und das, was sie von sich her sagen und zeigen, die Endlichkeit riskieren, daß nicht alles Mögliche wirklich werden kann, daß alle Wirklichkeit immer einen „Verlust“ an Möglichkeiten und „Verzicht“ auf Möglichkeiten einschließt und dazu den Ausschluß des Unmöglichen – das wäre eine Therapie gegenüber vielen Unsicherheiten, Verkrampfungen und Frustrationen.

Unterscheidung muß also geschehen, und sie geschieht im Transzendieren des Einzelnen ins Ganze, in der Kraft der Synthese, die jeder Analyse zugrunde liegt, und zugleich in der Kraft der Entschiedenheit, der Konkretion. Damit ist aber keineswegs ein Rückzug geblasen aus den Aporien unserer Zeit in eine bergende Sicherheit von gestern. Unterscheidung muß in dieser Zeit, sie muß unter den Bedingungen des Heute geschehen. Sie kann sich nicht hinauskatapultieren aus den Entwicklungen, die gerade dazu geführt haben, daß Unterscheidung nicht so selbstverständlich gelingt wie einst. Warum gelang sie – wenn es auch eine Verkürzung der Sichtweise ist, so zu reden – vormals viel leichter? Gerade deswegen, weil die alles umfassende Einheit fraglos war, weil die Differenzen [13] umfangen waren von einem fundamentalen Einverständnis darüber, was Wahrheit, Erkenntnis, Welt und Dasein bedeuten. Dieses Einverständnis ist zerbrochen, freilich nicht erst heute, sondern aus einer alte Selbstverständlichkeiten und Einverständlichkeiten seit langem unterwandernden Geschichte heraus. Hier ist nicht der Ort für die Analyse dieser Geschichte. Doch wenn etwas unselbstverständlich wird, so ist dies nie nur ein Verlust, sondern mit aller Gefährdung zugleich auch eine Chance, das Unselbstverständliche neu aus sich selbst her zu gewinnen.

Diese Unselbstverständlichkeit gibt uns das Stichwort, wie Unterscheidung heute geschehen kann. Sie kann nicht mehr, wenigstens nicht mehr hauptsächlich, als „Definition“ geschehen. In der Definition ist der Horizont, in dem die Grenzen des Definierten liegen, vorausgesetzt, man kann von einem (im doppelten Sinn) Allgemeinen auf das Besondere kommen und es eingrenzen. Wer die Grenzen sagt, der sagt in einem definierenden Denken die Sache. Das „Allgemeine“ gehört auch heute dazu, und wenn uns etwas „transparent“ werden soll, dann ist es gerade notwendig, das Allgemeine aufzulichten, das insgeheim bereits vorausgesetzt war. Aber dieses Allgemeine, diese Voraussetzung, dieses tragende und nicht einfach zu eliminierende „Vorurteil“ muß gerade erst aufgedeckt werden, es ist seinerseits unselbstverständlich. Damit dieses Vorurteil aber aufgehen kann und damit das Unterscheiden nicht in einem bloßen „Entlarven“ mündet, sondern dem gerecht wird, was da unterschieden wird, hat eine andere Richtung die Priorität: das Eingehen auf die Sache selbst, das Sich-Einlassen in ihre innere Mitte. Was heißt das? Wir reduzieren andauernd Phänomene auf Bedingungen ihres Vorkommens. Wir lösen, um ein schon gefallenes Stichwort aufzugreifen, etwa Freiheit auf in die psychologischen und soziologischen, in die biologischen und zeitgeschichtlichen Komponenten, in deren Kontext von ihr die Rede ist. Aber sie selbst zeigt sich so gerade nicht. Wir sind, Bedingungen der Freiheit aufdeckend, in der Versuchung, zu meinen, die Freiheit selbst sei nichts anderes als diese Bedingungen. Der phänomenale Überschuß dessen, was das Wort Freiheit anspricht, geht unter. Der Weg [14] einer Unterscheidung, die weder nur definiert noch bloß reduziert, ist der Hinblick auf das, was von sich her dem Denken Anlaß gibt, von Freiheit zu sprechen, die Entfaltung des Phänomens aus seiner inneren Eigengesetzlichkeit. Aus diesem Sich-Gewähren von Freiheit, aus diesem Aufgang aus sich selbst heraus wird dann auch die Dimension, die Ordnung, das Ganze sichtbar, innerhalb dessen die Rede von Freiheit ihren Sinn hat. Und jetzt erst läßt sich das Verhältnis dieser Ordnung zu den verschiedenen Ordnungen der Bedingungen klarstellen, unter denen Freiheit steht, also des Biologischen, Soziologischen, Psychologischen und Historischen.

Damit ist etwas gesagt über die Methode, wie die nachfolgenden Unterscheidungen durchgeführt werden sollen. Man könnte, in einem freilich von der geschichtlichen Grundlage weiterentwickelten Sinn, sagen, sie seien „phänomenologisch“ angesetzt. Sie gehen nicht von fraglos fixierten Prämissen aus, sondern versuchen diese als das im jeweils Betrachteten selbst Mitgesetzte herauszustellen. Sie suchen das je in seine Unterscheidung Gebrachte aus jenem inneren Entscheiden, aus jener inneren Genese heraus zu sehen und zu verdanken, aus jener inneren Geschichte, welche die Phänomene konstituiert, um von ihnen aus die Sicht des Ganzen zu gewinnen, die ihnen zugehört.2 Dieser methodische Ansatz versteht sich nicht nur theoretisch. Er will auch eine lebendige Einstellung zu dem vermitteln, worum es jeweils geht. Viele Ratlosigkeit, viele Verkennung, viele Isolierung rühren heute daher, daß die Dinge nur noch subsumiert, eingeordnet, in ihre Brauchbarkeiten und äußeren Herkünfte verstaut werden. Das Eingehen, die Begegnung, der von sich selbst weggewandte Hinblick auf die Sache – und gerade daraus ihre „Unterscheidung“, ihre Kontur, das richtet sich genauso gegen Nivellierung und Vereinnahmung wie gegen eine Polarisierung, die fixe Standpunkte wie an einer Plakatsäule nebeneinanderklebt.

Wenn von phänomenologischer Methode die Rede ist, so mag dies insofern den Leser ein wenig erstaunen, als er sich oft nicht im bloß philosophischen Zusammenhang, sondern in dem einer theologischen Betrachtungsweise finden wird. Aber worauf beruht [15] Theologie? Doch darauf, daß Gott von sich her sich öffnet, sich zuspricht, sich schenkt, und indem er sich schenkt, uns alles schenkt. Der innere Ansatz der Theologie – das muß gerade heute gesehen werden, da wir in einem Gegenstoß gegen lange Versäumtes versucht sind, sie bloß in jene Wissenschaften hineinzuverrechnen, in denen ihre Gegenstände auch noch vorkommen – ist also insofern dem skizzierten „phänomenologischen“ verwandt: Aufgang der Offenbarung und Aufgang der Welt und des Menschen im Licht der Offenbarung aus dem Licht dieser Offenbarung, nicht über theologische Daten gestülpte gegenstandsfremde Methodik, sondern die Frage, wie der sich zusprechende Gott und wie das, was er spricht, in seinem Wort unmittelbar wird und was von ihm her alles und jedes bedeutet. Und da es Gott ist, der sich zuspricht, so ist es jener, der alles sein läßt, was es ist, der also die Vielfalt der eigenen Ordnungen, des je eigenen Aufgangs dessen, was ist, nicht verfremdet, sondern gewährt. Nach einem scholastischen Gedanken ist es die Spitze der „Kausalität“ Gottes, causae secundae, Ursächlichkeit, an sich selbst und an seinen Aufgang aus sich Freigegebenes, zu schaffen.3 Autonomie der Phänomene ist keine Antithese zur Theonomie, sondern ihr bezeugendes Bild. Sie ist es freilich nur dann, wenn sie zugleich als sich öffnende Beziehung ins Ganze verstanden wird. Solche Konsonanz zwischen Phänomenologie und Theologie soll in der Gewinnung der nachfolgenden Unterscheidungen bewußt aufgesucht werden, ohne daß der Unterschied der Ordnungen verwischt würde.

Der Titel „Unterscheidungen“ verspricht freilich mehr, als hier eingelöst wird. Einmal ist er ein umgreifendes Programm, das sich auf vieles gleich dringlich wie auf das hier Behandelte erstreckt. Ausgewählt wurden indessen vor allem solche Themen, die im Andrang des funktionalen Verrechnens und rationalen Reduzierens ihre Kontur, ihre Realität, ihren Sitz im Leben und Verstehen des Menschen zu verlieren drohen. Zum andern erfordert eine phänomenologisch und theologisch sauber durchgeführte Unterscheidung eine Vielzahl behutsam gesetzter und in ihrem Verhältnis zueinander abgeklärter Schritte. Hier sind mehr Wegskizzen als [16] ausführliche Beschreibungen des zu gehenden Weges angeboten.4 Es scheint indessen gerade heute wichtig zu sein, orientierende Hinweise zu jenen Unterscheidungen, wenn auch abgekürzt, weiterzugeben, an denen für menschliche und christliche Verantwortlichkeit, Entschiedenheit und Freiheit Wesentliches hängt.


  1. Vgl. Welte, Bernhard: Die Grenze als göttliches Geheimnis, in: Auf der Spur des Ewigen. Philosophische Abhandlungen über verschiedene Gegenstände der Religion und der Theologie, Freiburg i. Br. 1969, 62–73, bes. 67f. ↩︎

  2. Vgl. das methodische Grundkonzept von Rombach, Heinrich: Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg i. Br. u. a. 1971, etwa 62, 111, 221ff. ↩︎

  3. Vgl. Summa contra Gent. lib. I, cap. 15 und lib. II, cap. 42 und 45. ↩︎

  4. Die vier nächstfolgenden Beiträge sind Aufrisse in akademischen Vorlesungen und Übungen weiter entfalteter Thematik. Die beiden letzten Beiträge stützen sich auf einzelne Referate. Trotz relativer Eigenständigkeit bauen motivlich die Beiträge in ihrer Folge aufeinander. ↩︎