Plädoyer für eine „naive“ Theologie
[269] Knapp hingeworfene Thesen sind in der Tat zu knapp, um den ganzen Gedankengang sichtbar zu machen, der hinter ihnen steht. Das ist mir im Blick auf meine Äußerung über das Verhältnis von Philosophie und Theologie aus der Sicht der Theologie durch die Rückfrage von Josef Brechtken bestätigt worden. Ich bin dankbar für diese Rückfrage und nur ein wenig traurig darüber, daß ich notgedrungen nur wiederum zu knapp auf diese Rückfrage eingehen kann. Aber einige Stichworte können das Gespräch vielleicht weiterfördern. Ich möchte diese Stichworte in drei Hinweisen konzentrieren.
Der von mir vorgelegte Gedanke ist sozusagen nur eine zweite Hälfte. Es ging mir nicht um eine Begründung von Philosophie in sich, sondern um eine Begründung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie. Und wiederum nicht, um eine Begründung dieses Verhältnisses im umfassenden Sinn, sondern um eine Begründung aus der spezifischen innertheologischen Sicht, nachdem eine Begründung dieses Verhältnisses aus philosophischer Sicht vorausgegangen war. Es geht also ausschließlich bei meiner Überlegung um die Frage: Inwiefern ist vom Eigenen und Inneren der Theologie her eine Autonomie der Philosophie im Verhältnis zur Theologie zu begründen? Und ich wählte, auch um der schärferen Profilierung willen, den Ansatz, der sozusagen von sich her am weitesten von einem bloß philosophischen entlegen ist: den Ansatz beim Glauben als Glauben, bei der Offenbarung als Offenbarung.
Was aber so begründen werden sollte, ist das Recht und die Pflicht, auch in der Perspektive der Theologie, zur ei-[270]genen Autonomie der Philosophie, zum Anfangen mit sich selbst, mit dem Denken und seinen Fragen, mit dem, was sich dem Denken eben zu denken gibt.
Philosophie ist nicht als Hilfswissenschaft, sondern als Philosophie der Theologie von Interesse. Aber dann gilt philosophisch eben auch das Umgekehrte. Es kann nichts geben, was der Philosophie nicht zu denken gäbe – und deswegen ist eine Philosophie, für die das Faktum von Glaube und der es tragende faktische Anspruch von Offenbarung nicht bedenkenswert erschienen, nicht ganz Philosophie.
Philosophie ist hier verstanden als jenes Denken des Menschen, dem sich alles Denkbare und Erfahrbare zu denken gibt, als das Denken, das vor sich selbst all seine Fragen und Antworten verantwortet. Es ist nur mehr eine Selbstverständlichkeit, daß alles, was der schlichte Glaube und was die reflektierte Theologie sagt, in menschlichen Worten, in menschlichen Gedanken gesagt ist. Es gibt keine Äußerung des Glaubens und der Theologie, die nicht vom Menschen Gedachtes und Denkbares in Anspruch nähme. Theologie steht, so genommen, immer unter dem Apriori der Philosophie. Dies ist auch in meinem Beitrag anerkannt und unterstrichen. Allerdings betone ich, daß in der Perspektive der Theologie das philosophische Apriori der Theologie selbst einen genuin theologischen Stellenwert hat. Eben den, daß sich Gott, indem er sich offenbart, in die Perspektiven und Horizonte menschlichen Denkens und Fragens hineinbegibt.
Daß es Theologie nur unter der Voraussetzung von Philosophie, Glaube nur unter der Voraussetzung von menschlichem Fragen und Denken geben kann, sagt etwas aus über den Gott, der sich so zu denken gibt: Er ist einer, der sich selbst überschreitet, er ist einer, der vom Menschen her und für den Menschen Gott sein will. Diese, vom bloßen Denken her notwendig naiv erscheinende Aussage verändert aber gerade nichts an der Eigenart des von sich selbst ausgehenden und auf seine Möglichkeiten rekurrierenden Denkens. Es gibt diesem Denken nur einen innertheologischen Stellenwert.
Bleibt freilich der Haupteinwand bestehen, den ich eher noch schärfer formulieren möchte, als es Josef Brechtken tat: Wenn nun schon jede Theologie unter einem philosophischen Apriori steht, welches philosophische Apriori steckt hinter der Sicht von Theologie und Glaube, die in meinem Beitrag zum Ausgangspunkt gewählt wurde? Ziehe ich mich nicht von diesem Anspruch der Philosophie zurück, indem ich eine naive, ungeprüfte Weise des Sprechens von Gott und Offenbarung unbekümmert anwende?
Nun, ich glaube, daß Theologie als Glaubenswissenschaft Wissenschaft von innen und nicht von außen, Wissenschaft also ist, die aus der Lehre des Glaubens, aus der Bekehrung des Glaubens heraus denkt. Nicht ich suche irgendeine Begreifbarkeit für den Glauben, dem ich einfachhin gegenüberstehe und an den ich Kategorien meines Verstehens herantrage, sondern der Glaube sucht sich von innen her seine Verständlichkeit, drängt von innen her zu seiner Selbsterhellung (fides quaerens intellectum). Nur so unterscheidet sich Theologie von Religionswissenschaft oder einem bloß philosophischen Hinblick auf die Offenbarung. Im Glauben aber bleibt, bei aller Möglichkeit, ja Notwendigkeit der Übersetzungen und hermeneutischen Aufschlüsselungen, jenes Urzeugnis maßgebend, das in den Quellen der Offenbarung uns gegeben ist. Will ich aber jene Bewegung, die in der Predigt Jesu und im Kerygma von Jesus den Glauben auslöst und die im Glauben selbst ergriffen wird, im Blick aufs Selbst- und Weltverständnis des zum Glauben gerufenen und sich zum Glauben entscheidenden Menschen artikulieren, so geschieht eben jene Umkehrung, von der ich in meinem Beitrag spreche, indem ich – freilich in knappen Strichen – die Botschaft von der Herrschaft Gottes auszulegen suche. Hier gibt es nicht mehr nur einen äußersten Sinnhorizont des Menschen, sondern hier wird dieses Äußerste, dieses Woher und Woraufhin zum handelnden, rufenden, sich mir eröffnenden, in mein Leben einbrechenden Gegenüber. Dies kann auf keine gemäßere Weise geschehen als im Reden von Gott und seinem Handeln. Dieses Handeln wird – das die Botschaft Jesu und dies zugleich das Zeugnis in der Botschaft von Jesus – gegenüber dem Handeln Gottes vor dem Kommen Jesu neu qualifiziert, und eben diese neue Qualifikation suche ich im Ansatz zu beschreiben.
Natürlich kann ein solches Beschreiben nicht geschehen ohne den Rückgriff auf Verstehenshorizonte und Verstehensmöglichkeiten, die der Mensch in die Begegnung mit dem handelnden Gott einbringt. Natürlich ist es Aufgabe, eine doppelte Zumessung vorzunehmen: die Zumessung der mitgebrachten Kategorien an das, was sie sagen sollen, die Zumessung des widerfahrenden Neuen an die Kategorien, in denen es sich verfaßt. Dabei kann es aber doch gerade nicht darum gehen, dieses Neue nur „unterzubringen“ in den mitgebrachten Denkmöglichkeiten, somit aber dieses Neue nicht mehr neu sein zu lassen. Vielmehr geht es darum, daß die „Naivität“ dieses Neuen sie selber bleiben darf und als solche sich zur Gegebenheit bringt. Verzicht auf solche Naivität wäre Verzicht auf den Anspruch eines kritischen Denkens, das seinen Ausdruck nicht nur an den mitgebrachten Aprioris, sondern auch an dem zu bemessen hat, was sich da zu denken gibt.
Ist nicht das ganze Neue Testament eine Geschichte dessen, wie Möglichkeiten des Denkens und Sprechens, die der Mensch in die Begegnung des Glaubens mitbringt, vom Glauben beansprucht und verwandelt werden? Dies aufzuzeigen, in seiner Struktur zu erhellen und im Blick auf gegenwärtige Ausdrücke von Glauben neu zu leisten, darin scheint mir eine wichtige Aufgabe der Theologie und der Philosophie in der Theologie zu liegen.