Dein Herz an Gottes Ohr
[92] Lobpreis: „Magnificat“
I
Magnificare heißt, wie auch das entsprechende griechische Wort „megalýnein“: groß machen. Es steht im Neuen Testament normalerweise für „rühmen“, „als groß preisen“; aber dieses Wort wird auch dort gebraucht, wo Jesus die Schriftgelehrten und Pharisäer kritisiert, weil sie „die Quasten an ihren Gewändern lang machen“ (Mt 23,5). Wir haben also schon recht damit, dieses elementare „groß machen“ in dem Wort zu hören, mit welchem Maria ihren Lobgesang beginnt: „Meine Seele preist die Größe des Herrn“, wörtlich: Meine Seele macht den Herrn groß (Lk 1,46).
Dieses demütige Wort der niedrigen Magd bekommt so einen schier überheblichen, anmaßenden Klang. Wie kann das Geschöpf Gott groß machen?
Ja, das Lobpreisen, Gott-Verherrlichen, das ist in der Tat Vollzug menschlichen Kleinseins und menschlicher Größe zugleich. Sag mir, was für dich groß ist, und ich sage dir, wie groß du bist. Wie groß du gerade in deinem Kleinsein bist, das anderes für dich groß sein läßt. Dies ist der Adel des Menschen, daß er Größe, einzig wahre Größe zu erkennen, zu benennen, zum Inhalt seines Wortes, ja seines Lebens werden lassen kann: die Größe Gottes. Es kann ihm – und dies widerfuhr dem heiligen Anselm von [93] Canterbury gerade in seiner Existenz als Beter – der Gedanke eines Gedankens in den Sinn kommen, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann – und dabei gewahrt er, daß dieser Gedanke ja kein bloßer Gedanke ist, sondern das ihn und alles konstituierende Maß, jenes Maß, das nicht von den Dingen und Menschen entworfen wird, sondern das Dinge und Menschen „entwirft“.
Vielleicht kann man sagen, das zum „ontologischen Gottesbeweis“ ausgebaute Grundereignis des Denkens, das uns im 2. Kapitel des „Proslogion“ Anselms sich eröffnet, ist die legitime Umkehrung des Magnificat: Das Großmachen als Grundfähigkeit und Grundtätigkeit des Menschen, seine denkende und verantwortete, alle Maße sprengende Ausspannung zum Unendlichen ist Antwort, ist der Ort, an dem die Realität Gottes selbst hineinscheint in diese Welt. Daß der Mensch Gott groß machen kann, definiert nicht nur den Menschen, sondern teilt im Menschen Gott selber mit, läßt den Menschen als den Spiegel Gottes verstehen, der nicht sich selbst erhellt, sondern den das Licht erhellt, welches in ihm aufstrahlt.
Mir selbst bedeutet dies keineswegs nur dürre Reflexion. Es ist der gedankliche Nachhall einer Grunderfahrung: In den reinsten und höchsten Gestalten menschlichen Lobpreises Gottes – und diese reinsten und höchsten Gestalten finden sich oftmals auch und gerade im Zeugnis der ganz Kleinen und Unscheinbaren – geht eine Wirklichkeit auf, die von sich selber her bezeugt, daß sie nicht vom Menschen gemacht ist, sondern den Menschen als Menschen ausmacht. Daß der Mensch Gott groß machen kann, [94] erweist den, den er groß macht – und dies eben ist das Kleinsein und das Großsein des Menschen zugleich. Nur im Lobgesang, nur in der Anbetung, nur in der Hingabe über sich selbst hinaus eröffnet sich diese überragende, tragende und begründende Qualität, dieses entzogene Geheimnis. Nur der kleine Mensch kann der Ort des Aufgangs Gottes, des Großen, sein. Indem er es aber ist, wird er erhöht von dem, der sich in ihm mitteilt – und so sehr dieser Aufgang Gottes im Menschen Gottes Werk und Tat ist, so sehr ist er doch nicht neutrales Widerfahrnis, sondern antwortende Tat des Menschen selbst. Ja, der Mensch „macht“ Gott groß. Der Punkt, an dem die Größe Gottes aufbricht in der Welt, ist die Freiheit des Menschen, sein freiwilliges Einstimmen in den Ruf und die Berührung Gottes, sein antwortendes Wahrnehmen dessen, daß er von Dem und auf Den zu ist, der ihn unendlich übersteigt.
Wir finden im Magnificat die angedeuteten Verhältnisse wieder. Die niedrige Magd macht Gott groß, weil sie angeschaut ist von dem, der allein groß ist. Jene, die aus sich selber groß sind, werden gestürzt, die aber aus sich selber nichts sind, werden erhöht. Nur Gott ist der Handelnde, aber gerade dies setzt den Menschen frei, in seiner Kleinheit Gott groß zu machen, und indem Gott gerühmt wird, wird auch der Mensch, an dem Gott handelt, bis in die kommenden Geschlechter hinein seliggepriesen (vgl. Lk 1,46–55).
Lobpreis Gottes, Magnificat, ist die zweieine Wahrheit Gottes und des Menschen zugleich.
<sup class="text__reference">[95]</sup> II
Die Frage nach der Rechtfertigung, die zur Reformationszeit die Glaubenden umtrieb, ist – entgegen dem Anschein an der Oberfläche – brennend geblieben, neu brennend geworden. Die Frage heißt heute freilich für viele vordergründig nicht mehr: Wie erhalte ich einen gnädigen Gott? Gott scheint oftmals verschleiert, dem Leben und Interesse ferne gerückt. Und doch fällt die Wucht des eigenen Ich nur noch ungeheuerlicher auf den Menschen zurück. Ich habe mich nicht selber ins Dasein gerufen, ich habe mir seine Bedingungen nicht ausgewählt, ich wirke mit an einer Zukunft, der ich letztlich ohnmächtig gegenüberstehe. Wie rechtfertigt es sich, daß es mich überhaupt gibt? Ich werde zum Ankläger gegen mein eigenes Dasein und das der Welt.
Dies ist sicher nicht die alleinige und nicht einmal die vorherrschende Stimmung, und doch drückt es viele nieder: Daß ich bin, daß die Welt ist, dies bedarf der Rechtfertigung – und ohne diese Rechtfertigung kann ich eigentlich nicht leben; denn ob ich will oder ob ich nicht will, ich bin auf diese Vorgabe meines Daseins und der Welt angewiesen.
Was in solcher Bedrängnis sich artikuliert, das macht nicht Halt vor Christen, auch vor solchen nicht, die keineswegs gebrochen haben mit ihrem Glauben. Wir erleben mitunter, daß sie, ohne es zu artikulieren oder auch ohne es zu wollen, den Verhältnissen, dem Ganzen, dem Leben gram sind. Es ist, als ob sie es als Grundwort ihres Lebens sagten: Es ist nicht gut, zumindest nicht ganz gut! Vielleicht gibt es für sie Gott, vielleicht erwarten sie von ihm [96] sogar etwas wie eine letztendliche Heilung und Rettung. Aber dieser Glaube an Gott und sein Heil durchdringt nicht das Atmen, das Sehen und das Leben, sondern bleibt wie eine Notlösung, ein Zusatz, welche die innere Stummheit, Ungewißheit, abgründige, mißtrauische Müdigkeit nicht aufheben.
Ich denke da an den heiligen Franz von Sales. Nach langer innerer Qual, die ihn den Gedanken nicht loswerden ließ, er sei verdammt, stößt er zur Freiheit durch. Es durchbebt ihn: Ob ich gerechtfertigt bin oder nicht, ob ich verdammt werde oder nicht, du, mein Gott, bist groß; und weil du Gott bist, will ich dich anbeten, dich loben! Mit einem Schlag verschwinden die Ängste, er kann wieder atmen.
Gott ist Gott, und ich bin, daß es ihn gibt, daß er groß ist. Ich anerkenne das, ich öffne mich ihm, ich lasse ihn groß sein. Ich lobpreise ihn. Einfach weil er groß ist und ich bin, daß er groß ist, ist alles anders. Daß es ihn gibt, dass Er Gott ist, das rückt das Verhängnis meines und allen Daseins zurecht, zum Ruf, zur Gabe. Im Lobpreis, im „magnificare“ ist die Existenz des Menschen und der Welt „gerechtfertigt“.
Erst wo wir Lobpreis wagen, über uns und unsere Ängste hinaus, reißt der schwarze Himmel auf, kommt die Welt ins Lot, kann der Mensch atmen. Ich kann nicht bestehen, wenn ich nicht vor ihm stehe, um ihn zu loben. Nur im Lobpreis ist meine Niedrigkeit angeschaut, geschieht Rechtfertigung, Heil. Lobpreis und Rechtfertigung, der große Gott und der versöhnte Mensch – dies ist das Lied der Engel über Christi Geburt: „Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade“ (Lk 2,14).