Die Bedeutung der Kantschen Kritik der Gottesbeweise
[93] Zur Nachgeschichte des Kantschen Gedankens*
Kein anderer Gedanke zur Frage der philosophischen Erkennbarkeit Gottes war im neueren Denken so folgenreich wie der, den Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ entwickelt hat. Es gibt kaum eine bedeutsame Position in der Sache philosophischer Gotteserkenntnis, die nicht wesentlich, wenn auch mehr oder minder ausdrücklich, zu ihm in Beziehung stände. Merkwürdigerweise kann man hierbei die Stellung zu Kant nicht einfach nach Zustimmung und Ablehnung seiner Thesen aufgliedern; vielmehr gehen die Linien der Verbindung mit ihm in alle nur erdenklichen Richtungen. Es sei erlaubt, die verwirrende Vielfalt der Nachgeschichte des Kantschen Ansatzes zunächst einmal ungeschieden und äußerlich vor Augen zu führen, weil so etwas von der explosiven Kraft dieses Gedankens sichtbar werden kann, der in sich selbst verhältnismäßig einfach, durchsichtig, ja spröde erscheint.
Da ist zunächst einmal auf die unmittelbare Fortsetzung Kants im deutschen Idealismus hinzuweisen. Hatte Kant den Anteil der Spontaneität des Subjekts an der Erkenntnis neu entdeckt, so hebt der deutsche Idealismus die Zweiteilung Spontaneität – Rezeptivität, die Kants Analyse beließ, vollends auf ins reine Selbstverhältnis des in all seinem Erkennen sich selbst setzenden Geistes. Dieser Geist wird der absolute Geist, die Schwierigkeit ist nicht mehr jene Kants, vom Endlichen zum Absoluten vorzustoßen, eher die umgekehrte, von der fraglosen Gewißheit des Absoluten aus wieder zum Endlichen zu kommen. Hegels „Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes“ könnten so nahezu als [94] Umkehrung der Kantschen Kritik gelten, und doch steht Hegels Denken auf den Schultern Kants. Vom späten Schelling gilt dies gar noch ausdrücklicher. Seine Wiederumkehrung Hegels geschieht in der Rückkehr zu Kant, von dem aus er indessen in ganz andere Horizonte, in Richtung auf den geschichtlich handelnden Gott, vorstößt.
Nach dem deutschen Idealismus erfolgt der scharfe Gegenzug der Metaphysikkritik, deren erster wichtiger Name W. Dilthey heißt. Doch auch ihre so anders gestimmte Hinwendung zum Vollzug erlebenden Verstehens wäre nicht denkbar ohne den Vorgang Kants, ohne seine Wendung zum Subjekt und zu seiner Spontaneität. Solches gilt zuvor bereits von Schleiermachers Verständnis der Religion vom Gefühl aus.
Die Jahrhundertwende und die Zeit danach war an den deutschen Universitäten zunächst weithin bestimmt vom Neukantianismus, der, wenn auch differenzierend und weiterführend, sich bewußt am Meister der Kritik der reinen Vernunft orientiert. Als religionsphilosophisch kennzeichnendes Buch sei hier genannt Hermann Cohens „Der Begriff der Religion im System der Philosophie“.
Den Gegenzug gegen diesen Neukantianismus, der im Aufbruch dialogischen Denkens einerseits und in der Weiterführung der Phänomenologie durch den jungen Heidegger andererseits erfolgte, bestimmt der polemische Bezug zu Kant durchgängig und deutlich. Franz Rosenzweigs „Der Stern der Erlösung“ und sein Aufsatz „Das neue Denken“ tun das wohl am deutlichsten dar, aber auch Martin Bubers Gegenwendung gegen ein erfahrendes Denken ist nur vom Erfahrungsbegriff Kants her zu verstehen. Schließlich schreibt Martin Heidegger bald nach dem Durchbruch von „Sein und Zeit“ sein Kantbuch.
Die Verschiedenheit der Richtungen, in welche Kants Gedanke zur Erkennbarkeit Gottes weist, tut sich noch bedrängender auf, wenn wir kurz drei andere Stränge seines Einflusses benennen, die abseits der soeben gekennzeichneten Linien der Philosophiegeschichte laufen und doch für unser gegenwärtiges Bewußtsein von hoher Bedeutung sind. [95] Einmal ist es doch bemerkenswert, daß nicht nur die Einkehr des Denkens in seine eigene Absolutheit im deutschen Idealismus, sondern auch die Abkehr des Denkens vom Vertrauen zu sich selbst in den bloßen Positivismus hinein sich an der Beschäftigung mit Kant, an seiner Kritik der Erkenntnis entzündet hat.
Aber auch, und dies scheint noch weniger zu vermuten, die neuscholastische Rückbesinnung des Denkens auf einen ganz anderen und viel früheren Strom abendländischer Tradition fand in Kant nicht nur den zu widerlegenden adversarius. An einer so wichtigen Stelle des Weges der Neuscholastik, wie sie Joseph Maréchals Buch: „Le point de départ de la métaphysique“ bezeichnet, erfolgt ein ausdrücklicher und die Thomasinterpretation selbst befruchtender Hinblick auf Kant, und dieser positive Hinblick hat auch die weiteren im Umkreis des Thomismus gewachsenen Denkbemühungen auf unterschiedliche Weise begleitet, wie es sich an Gustav Siewerths „Thomismus als Identitätssystem“, an Karl Rahners „Geist in Welt“, an Caspar Ninks oder Emmerich Coreths Untersuchungen dartut.
Schließlich muß an jene Gestalten des Denkens erinnert werden, die auf philosophische oder theologische Weise im Abstoß der Vernunft von sich selbst in den Glauben sich ansiedeln. Es sei hier erinnert an die Glaubensphilosophie eines Jacobi, dann vor allem an Kierkegaards Entscheid zum Paradox des Glaubens, an die Haltung der dialektischen Theologie zur Philosophie, aber auch an den philosophischen Glauben bei Karl Jaspers. Könnte man die zuletzt genannten Namen ansonsten auch kaum in einem Atem nennen, der allen gemeinsame Rückblick auf Kants Ausklammerung der Gottesfrage aus den Möglichkeiten theoretischer Vernunfterkenntnis verbindet sie.
Das wichtigste Glied unserer Aufzählung der Nachwirkungen Kantscher Religionskritik blieb indessen noch unerwähnt, und es läßt sich auch nur schwer mit kurzen Worten fixieren: Es ist die Selbstverständlickeit, mit der das gängige philosophische, wissenschaftliche und auch nur allgemeingebildete Bewußtsein es hinnimmt, daß seit Kant die alten Wege natürlicher Gotteserkenntnis abgetan seien und so zwischen dem exakten Denken der Wissen- [96] schaft und der Sicherbarkeit ihrer Ergebnisse einerseits und der Erkennbarkeit Gottes andererseits eine intellektuell unüberbrückbare Kluft liege.