Leben aus der Einheit

[95] Einheit und Schöpfung. Sein und Dasein eucharistisch verstanden: eine neue Weltsicht

Die personalen Bezüge sind das Wesentliche an unserem Leben. Doch erschöpft sich unser Leben nicht in diesen personalen Bezügen. Das andere, die Welt der Mitgeschöpfe, die Welt der Sachen, das Materielle, weiter und tiefer gefaßt: die Schöpfung und die Güter der Kultur gehören dazu. Ändert sich unter einem trinitarischen Ansatz des Einsseins auch das Verhältnis zu den Sachen und das Verständnis der Sachen? Jedenfalls gehört es zum Einssein unseres Lebens, daß auch im Verhältnis zwischen den Personen einerseits und dem Verhältnis zur Schöpfung im ganzen andererseits Einheit herrsche, ja jene Einheit sich zeige, die kennzeichnend ist für unseren trinitarischen Ansatz des Denkens und Lebens.

Wenn ich – zumindest in unserer abendländischen Gedankenwelt – jemand frage, was ein Seiendes sei, so ist am ehesten eine Antwort zu erwarten wie die: ein Baum, ein Stein, ein Krug – jedenfalls etwas, das eine umgrenzte und umrissene innere Struktur hat, die sich auch in einer entsprechenden Gestalt spiegelt. Natürlich müßten wir in einer phänomenologischen Untersuchung die Unterschiede [96] zwischen Sache, Seiendem und Geschöpf deutlich differenzieren – dies ist in unserem Zusammenhang nur zu notieren, nicht auszuführen.

Wohl aber ist darauf hinzuweisen, daß eine eigentümliche Not in unserer Zeit herrscht: Wie gehören die vielerlei Dinge untereinander und mit uns zusammen, wie gehören wir in sie hinein, wie können wir die Einheit und Vielfalt von Seiendem, von Schöpfung erfahren und ihr gerecht werden? Welchen inneren, einsmachenden Sinn finden wir in dem Vielen, was uns begegnet und in das wir verstrickt sind, wo sind für alles das die einenden und damit zugleich sinngebenden Grundlinien?

Es ist nützlich, hier einen Seitenblick zu werfen auf geschichtliche, ich möchte beinahe sagen: seinsgeschichtliche Entwicklungen im Verständnis von Schöpfung. Eine erste Grunderfahrung ist nicht nur eine einfache naive Unaufgeklärtheit, wenn in einer Antike – die vielerorts noch nicht zu Ende ist und andernorts, wenn auch verändert, Urständ feiert – geheimnisvolle Mächte, Segen oder Unheil wirkende Einflüsse, rational nicht voll aufzulösende Wirkkräfte vermutet, erspürt, „beschworen“ werden. Die Unheil bringenden Mächte zu überlisten oder zu bannen, gegen sie zu kämpfen, mit den wohltuenden Kräften in ein Bündnis zu gelangen, sich ihnen anzuvertrauen, dies gehört zu den Urformen menschlicher Religiosität, die Geschichte und Natur, Vergangenheit und Zukunft, Macht und Übermächtigung des Menschen umgreift.

Es ist bereits im Alten Testament eines der [97] Grundanliegen biblischer Religion, ein neues, freies Verhältnis zwischen den Bundespartnern Gott und Mensch und zwischen Mensch und Mensch im Bundesvolk zu statuieren, das von magischer Knechtung befreit und unbefangenen Umgang mit den Dingen ermöglicht. Dabei geht allerdings ein Bruch der Bundestreue in der Tat mit einer Auslieferung des Menschen an Irrationales und nicht mehr vom Menschen Steuerbares einher; die Kräfte der Schöpfung sind in den Händen des lebendigen und liebenden, aber eben Antwort und Treue heischenden Gottes. Der „Einheitspunkt“ des Ganzen – der Verhältnisse, die zwischen Gott, Mensch und Dingen, Einzelnem und Gemeinschaft spielen – ist der lebendige, liebende Schöpfergott.

Eine zweite Grunderfahrung drängt im Umkreis der biblischen Religion, aber auch der großen denkerischen Ansätze rationaler Weltbewältigung nach vorne, die jene der „Mächte und Gewalten“ ablöst oder doch kanalisiert: In den Dingen und in dem, was ist, meldet sich das Wort. Die Dinge haben ihr Wort und eröffnen es dem, der auf die Sprache des Seins in ihnen achtet. Das bedeutet nicht notwendigerweise vollständige Aufklärung aller Gründe und Abgründe, aber eben doch Eintritt des Gesamten, des Seins im ganzen in die rationale, fragende, suchende, forschende Bewältigung durch den Menschen.

Von solcher worthaften Struktur der Dinge und der Schöpfung im ganzen führt ein Weg, der geschichtlich mächtig wurde, zum Verständnis der Dinge als Objekt und zum Verständnis der Welt als [98] Inbegriff aller möglichen und wirklichen Objekte. Im Objekt stellt sich der Mensch als Subjekt dem Seienden gegenüber, er prägt ihm nicht den Stempel des bloßen Verfügens und Ausnützens für seine eigenen Interessen und sein eigenes Leben auf, aber mehr als der Hegende und Pflegende, als der Hirt des Seins, wird er doch der eigenständige Verwalter, ja verfügende Herrscher über das, was ist. Man hat die neuzeitliche und nachneuzeitliche Verfremdung und Vermarktung des Seins nach rein menschlichem Geschmack der biblischen Lehre vom Menschen angelastet, dem Gott auftrug, sich die Erde und ihre Geschöpfe untertan zu machen. Hierbei ist freilich der biblische Charakter dieses „herrscherlichen“ Waltens über die Schöpfung oft genug übersehen worden: eben der Charakter des Hirten, des Gärtners, dessen, der die Einheit des Seins und die Gefügtheit der Dinge gerade nicht in bloße Objekte zerlegt und sie dann nach eigenem Gutdünken wieder zusammenordnet.

Daß es eine nicht nur die Einheit, sondern auch das Leben der Welt, der Schöpfung, der Dinge bedrohende Entwicklung über die neuzeitliche Objekt-Subjekt-Spaltung hinaus gibt, ist indessen nicht zu übersehen. Überspitzt gesagt: Die Dinge verschwinden, es bleibt das Material. Eine Botschaft der Dinge, ihr Wort also, ist ausgelöscht; es wird umgebrochen in einen totalen Neuentwurf nach abrufbaren Bedürfnissen und nach Plänen, die so gut wie alles möglich machen. Das Erschrecken vor dieser Entwicklung hat längst eingesetzt, und es ist eine der großen Herausforderungen unseres Au- [99] genblicks, die Einheit der Schöpfung neu zu verstehen und mit ihr so umzugehen, daß in der Unumkehrbarkeit von geschichtlichen wie wissenschaftlich-technischen Entwicklungen dennoch Umkehr zu dem geschehe, was Natur, Geschichte und Leben des Menschen zu einem tragfähigen Konzept von Zukunft verbindet.

Wo ansetzen? Im Blick auf Jesu Wort, daß alles, was sein ist, des Vaters und alles, was des Vaters ist, sein ist (vgl. Joh 17,10), sprachen wir bereits von „göttlicher Gütergemeinschaft“. Es wurde uns deutlich: Diese innergöttliche Gütergemeinschaft kann sich nicht auf ein „Etwas“ erstrecken; es gibt in Gott neben seiner Göttlichkeit kein anderes Etwas. Gott ist so „arm“, daß er nichts anderes besitzt als sich. Und „nichts anderes als sich“ heißt eben, daß er in sich, in seinem Gottsein alles besitzt. Es heißt aber auch, daß dieses Alles, dieses Göttliche, diese Gottheit selbst in ihm zur Gabe wird, die Vater und Sohn miteinander austauschen. Gott ist Gott zum Geschenk, zum einen und selben Geschenk zwischen Vater und Sohn, und dieses Geschenk ist der Heilige Geist.

Bei uns Geschöpfen ist das anders, muß das anders sein. So sehr wir alles und das Ganze sind, so wenig sind wir es dergestalt, daß wir uns selbst in uns selbst genügen. Wir brauchen einander, und einander brauchend brauchen wir „etwas“, woraus wir leben können, woraus sich unser Leben nährt und mehrt, worin es sich gestaltet und findet. Die- [100] ses Etwas ist die Marke unserer Endlichkeit, unserer Angewiesenheit aufeinander und unserer Angewiesenheit miteinander auf die je neue Gabe Gottes. Diese aber trägt den Stempel des Göttlichen in aller Endlichkeit, Vorläufigkeit und Vergänglichkeit, indem sie Gabe zwischen uns, Gabe der einen an die anderen wird. Dies also ist der Sinn des Etwas, der Sachen und Güter, der Geschöpfe: Unser endliches Einswerden braucht ein Worin, in dem es sich vollzieht und ausdrückt – dieses Worin aber ist von seinem seinshaften Sinn her: Gabe, Geschenk. Menschliche Welt- und Schöpfungsverantwortung heißt dann aber, Verantwortung dafür zu übernehmen, daß alles zum Geschenk werde und daß alle so Empfangende und Gebende dieses Geschenkes werden können, daß darin ihr eigenes Leben, ihre Würde und die Einheit des Ganzen gewährleistet seien. Es wäre eine überaus lohnende Aufgabe, eine Schöpfungstheologie wie eine christliche Soziallehre vom Sein als Geschenksein aus zu entfalten.

Der Charakter des Heiligen Geistes als die personale Gott-seiende Gabe in Gott, in der uns alles andere geschenkt ist, hat sich uns bereits angedeutet. Es könnte als Inkonsequenz erscheinen, wenn jetzt die Rede sein wird von Eucharistie als der Gabe Gottes. Und doch findet jene Einheit stiftende und gründende innergöttliche Gabe des Geistes nirgendwo einen höheren, vollständigeren Ausdruck, eine reichere und umfassendere Wirkung als eben in der Eucharistie. Was zwischen Vater und Sohn, Sohn und Vater im Geiste geschieht und als Geist [101] mitteilbar wird an uns, das drückt sich aus, lebt, wird zur „Sache“ schlechthin, zur Vollendung des Gabeseins alles Geschaffenen in der Eucharistie. Aus der Kraft des Heiligen Geistes hat der Sohn alles Menschliche, ja wir dürfen sagen: alles Geschöpfliche sich zu eigen gemacht, um darin uns sich selbst und alles Göttliche zu schenken. Er hat, so ganz einsgeworden mit dem Unseren, so ganz „Wir“ geworden in seiner einen und einmaligen Menschennatur, zugleich die ganze Menschheit, die ganze Schöpfung, das Leben und Sterben eines jeden von uns dem Vater geschenkt. Diese Annahme des Menschlichen durch Gott und diese Annahme des Göttlichen durch den Menschen, diese verschenkende Hingabe und verherrlichende und opfernde Rückgabe, dieses einzeln-einmalige und doch die ganze Schöpfung und Geschichte umspannende Ereignis von Menschwerdung, Tod und Auferstehung ist da in der Einmaligkeit seines Ereignischarakters und in der bleibenden, nie sich verbrauchenden Gestalt: in der Eucharistie, als Eucharistie. In ihr aber werden wir – im Glauben eintretend in dieses eucharistische Geheimnis – selber zur Einheit, zur Gemeinschaft, zum „einen Leib“, in dem Jesus sich dem Vater für die ganze Welt darbringt und in dem wir uns und alles mit ihm darbringen und zugleich zum Geschenk füreinander und miteinander werden.

Es ist dem Geist „gelungen“, in der Eucharistie die Synthese zu schreiben, ja zu schaffen, die das Ganze unseres Gott-, Schöpfungs- und Menschheitsverhältnisses zum Ausdruck bringt. Und wir [102] dürfen sagen: Alle Seinslinien des Geschöpfes und der Schöpfung laufen zusammen in der Eucharistie. Von ihr her allein läßt sich lesen, wohin alle Dinge tendieren, was alle Dinge „sind“ – ihrer Anlage nach bereits jetzt, ihrer Vollendung nach eben dann, wenn der Sohn dem Vater alles und sich selbst in die Hände legt und Gott so alles in allem sein wird (vgl. 1 Kor 15,28). Es ist, recht verstanden, die höchste Würde der Schöpfung, die höchste Bestimmung aller Dinge, Materie, Stoff zu werden für die Eucharistie; und der Sinn dessen, was in der Geschichte mit den Dingen und der Schöpfung geschieht, ist eben jenes Offertorium, aus dem die vollendende eschatologische Konsekration und Kommunion erwächst. Dieser Sicht der Dinge entspricht es gerade, wenn die innergeschichtliche Feier der Eucharistie an die Ursprungsbedingungen der konkreten Einsetzung von Eucharistie gebunden bleiben: Priestertum des Dienstes, Brot und Wein, geprägte Worte der Einsetzung.

Das „Neue“ einer Ontologie, eines Seinsverständnisses, das von einer trinitarischen Schau des Seins ausgeht, wird an dem, was Schöpfung einsmacht, nicht weniger anschaulich als an dem, was das Leben des einzelnen und was die Gemeinschaft einsmacht. Blicken wir von hier nochmals auf die Eucharistie. Wenn wir sie, geleitet vom Interesse am Sein des Seienden, betrachten, dann fällt auf, daß in ihr drei Spannungsverhältnisse zu einer eigentümlichen Lösung kommen, die für das Ganze des Seinsverständnisses von Belang ist: Sein und [103] Funktion, Vergehen und Bleiben, Verbrauchen und Verehren.

Sein und Funktion: Jesus ist ganz da in der Eucharistie, als Gott und Mensch, mit Fleisch und Blut, als die Einheit seines Leibes aus den vielen Gliedern, die wir sind, ja als die angenommene Ganzheit von Menschheit und Kosmos. Er ist dies, er ist da. Und in diesem Sein und Dasein sind, kraft des gegenseitigen Sich-Umfangens der göttlichen Personen – Perichorese –, auch Vater und Sohn gegenwärtig. Dieses Sein hängt nicht von uns ab, sondern ist uns gegeben, in einer uneinholbaren und unzerstörbaren Weise vorgegeben. Sein in seiner Konsistenz läßt sich kaum anderswo so dicht erfahren wie gerade in der Eucharistie. Aber dieses Sein ist: Sich-Geben. Alles in Jesus, alles in seinem eucharistischen Sein und Dasein ist schenkende Gebärde auf uns hin. Wir sollen von ihm leben können. Er ist sich nicht zu schade, mit seinem ganzen Sein „in Funktion“ zu treten. Der Gegensatz zwischen einem seinshaften und einem bloß funktionalen Denken ist hier aufgehoben. Alles ist Funktion und alles ist Sein. Ja, Sein und Funktion sind eins in der Liebe, sind eins als Liebe. Liebe aber ist „zu Diensten“. Und es degradiert sie nicht, „zu Diensten“ zu sein, im Gegenteil: Diese Selbstdegradierung macht allererst ihre Würde, ja ihre Identität aus. Die Substantialität des als Liebe verstandenen Seins ist Hingabe. In diesem Sinne also gilt: Sein und Funktion sind eins.

Besonders markant wird dies sichtbar an der johanneischen Perikope über die Fußwaschung. Sie [104] verhüllt und offenbart zugleich, was im Abendmahl geschieht. Fußwaschung ist nicht, wie man längere Zeit geglaubt hat, ein achtes Sakrament, sondern sie hat ihr Besonderes darin, kein anderes Sakrament als die Eucharistie zu sein: Gottes innigstes und innerstes Sein. Gottes Sein, das sich bis zum Äußersten gibt, ist Liebe, und diese Liebe hat die Gestalt des sich entäußernden Dienens, eben der Funktion.

Es gibt natürlich ein schlechtes und ein gutes Verständnis von Sein als Funktion. Wir haben allzulange in den Dingen, in den Geschöpfen nur das Funktionale, Gebrauchbare, Verfügbare für den Menschen gesehen und nicht entdeckt, daß in dieser Funktion, uns zu Diensten zu sein, die Geschöpfe gerade ihren Eigenwert und ihr eigenes Profil haben. Sie nur ausnutzen in ihrer Brauchbarkeit, ist etwas fundamental anderes als jener Umgang, der sie dergestalt gebraucht und nutzt, daß sie nicht ortlos im Ganzen, nicht beliebig versetzbar und ersetzbar untergehen, sondern der Regeneration, der Entwicklung, der Gestaltung, der Zukunft also fähig bleiben. Die Dinge sollen nicht untergehen in ihrem Gebrauch durch den Menschen, sondern aufgehen. Funktion ist nicht allein Interpretament des Seins, sondern Sein auch Interpretament der Funktion.

Vergehen und Bleiben: Eucharistie ist nicht Wiederholung und damit Multiplizierung der ein für allemal am Kreuz geschehenen erlösenden Hingabe Jesu an den Vater, sondern Gegenwart, Zueignung, Eintreffen dieses einmaligen Geschehens in seiner [105] Einmaligkeit, Eintritt dieses einmaligen Geschehens in die vielfältigen Situationen geschichtlicher Gemeinschaft im Glauben. Eucharistie ist die Rückbindung und der Zusammenhang alles dessen, was ist, in der einen Liebe, in welcher der Herr in seiner Kreuzeshingabe sich allem zu eigen gab und sich alles zu eigen übernahm. Dabei ist ein doppelter Charakter besonders denkwürdig: Da ist das Geschehen, das alles eint, das die Inkarnation vollendende und auslegende Paschageheimnis – da ist der lebendige Herr als die personale Mitte und Integration der gesamten Schöpfung.

Das Dasein und Dableiben der Person des österlichen Herrn gründen in der Todeshingabe, also im „Vergehen“ Jesu. Seine Hingabe ist Liebe, und nur Liebe „ist“. Und weil Liebe ist, führt das Paschageheimnis durch den Tod hindurch in das bleibende Leben. Die bleibende Gegenwart des Opfers Jesu durch die Eucharistie, sein Sich-Zueignen an uns in ihr, seine personale Gegenwart im Sakrament erschließen sich allein von jener „Ontologie“ her, in welcher Vergehen Bleiben und Bleiben Vergehen und beide nichts anderes denn Sein als Liebe, Liebe als Sein bedeuten. Dies hat tiefreichende Konsequenzen für die Schöpfung insgesamt, für das, was sie ist, und für das, was sie einsmacht.

Wenn wir auf die Schöpfung schauen, dann können wir bei allen Erfahrungen einer Zeiten und Gezeiten überdauernden Identität doch nicht an einer ebenso universalen Vergehenserfahrung vorbei. Schöpfung bleibt nur, indem ihr beständig neu das Signum des Vergehens eingebrannt ist.

[106] Entstehen ereignet sich als Vergehen, Vergehen als Entstehen, und gerade diese Verflechtung ist es, worin das Bleibende, das Gleichgewicht der Dinge und Kräfte, spielt. Es braucht keine Verharmlosung zu bedeuten, wenn darin Größe, Wunder, Schönheit wahrgenommen werden. Und doch können wir schier noch weniger an einer anderen Erfahrungsqualität vorbeisehen und vorbeileben. Sie ist mir besonders aufgegangen im Gespräch gegen Ende der fünfziger Jahre mit meinem Freiburger Nachbarn, dem Dichter Reinhold Schneider. Er, der Ungezählten in den Irrungen und Wirren des Krieges und des Nationalsozialismus Orientierung am Bleibenden und Gültigen der Botschaft Jesu zu geben vermochte, geriet in die Anfechtung angesichts der Grausamkeit, die er tief eingeschrieben fand in den Kampf und die gegenseitige Zerstörung, die in der Natur herrschen. Wie da noch „Vater unser“ sagen? Die Lippen des Bekenners drohten sich zu verschließen. Der „Winter in Wien“ zählt zu den ganz großen Zeugnissen unseres Jahrhunderts und erreicht hier seine abgründige Tiefe. Daß es Bleiben nur in einem Vergehen gibt, das Geschöpfe, ja Menschen einander und der Schöpfung antun, daß es dem Anschein nach gar nicht anders „geht“ in einer geschaffenen Welt: wie damit leben? Eine rational glatt aufgehende Lösung für diese Frage kenne ich nicht. Sie machte auch Sein und Schöpfung zu harmlosen Rechenexempeln der Verstehbarkeit des Seienden. Und doch gab mir der Durchblick darauf Hoffnung, daß die Depotenzierung, das Verwesen, Aufgehen und Raum-Geben des einen für das an- [107] dere etwas zu tun hat mit jenem Positivum der Liebe, die im Sich-Geben nicht nur der Aufgang ihres anderen, sondern ihr eigener Aufgang ist, Aufgang dessen, was, unmittelbar angeschaut, untergeht. In einer unter die Vorzeichen der Schuld und des Egoismus geratenen Welt ist genau das, was wie die Schreckensform dieses Egoismus sich ausnimmt, zugleich das Gedenkzeichen an das, was stärker ist als er, und Verheißung darauf, daß die Leiden dieser Weltzeit nicht zu vergleichen sind mit der künftigen Herrlichkeit. Nochmals, das ist keine beruhigende Erklärung, sondern der beunruhigende Stachel im Fleisch, der uns dessen gemahnt: Eine fertige Ontologie der Liebe gibt es nicht; sie kann nur geschehen, indem wir sie geschehen lassen, sofern wir ihre Plausibilität im Mut zum liebenden Vergehen je neu bezeugen.

Verbrauchen und Verehren: Wir werden im Kontext dessen, was Schöpfung einsmacht, nochmals auf die Eucharistie verwiesen. Diese ist Opfer und Mahl. Im Opfer wird das Meine hinweggegeben, hinweg-„vernichtet“, damit es in dir und von dir her, dem das Opfer gilt, aufgehe. Was ich habe, was mein ist, soll dein sein, soll das sein, worin du aufgehst. Nur in solchem personalen Verstehen, nur in solcher Perspektive der Liebe entrinnt der Gedanke des Opfers der Absurdität eines unersättlichen Despotismus des je Größeren und Stärkeren.

Ein an der Eucharistie abgelesenes und geformtes Verstehen des Opfers führt freilich noch einen entscheidenden Schritt weiter. Es gilt nicht nur: Ich schenke dir das Meine und mich selbst, damit darin [108] du aufgehst – dies geschieht vielmehr im Wissen, daß darin gerade ich, daß darin gerade wir von dir und mit dir und so miteinander zu leben vermögen. Mahl heißt: immer dasselbe verzehren, damit in uns dasselbe lebt und aufgeht als der Genuß und die Kraft unseres Lebens, als seine Kostbarkeit in uns und als die Kostbarkeit unserer Gemeinschaft miteinander.

Das Mahl, in dem das Opfer geschieht und sich vollendet, ist Verzehren und Verehren in einem – und so wären wir zurückgekehrt zu unserer Grundeinsicht, daß gegenseitiges Sich-Geben, daß Aufgang der Welt als Gabe der Sinn und die Einheit von Schöpfung sei.