Dein Herz an Gottes Ohr
[97] Lobpreis: Sanctus
I
Ein Mensch, der mir nahestand, war in den Wochen vor seinem Sterben oft hineingetaucht in den Zustand zwischen Verhüllung und Helle, überwacher Gegenwart und Verschwimmen der Konturen. Wenn wir ihn ansprachen, gab er uns mitunter die Antwort: „Ich habe jetzt keine Zeit, ich muß ,Sanctus' singen.“
Sterben als Aussonderung, um „Sanctus“ zu singen.
Ausgesondert werden von dem, was „normalerweise“ läuft, dem Verfügen, ja Berühren entzogen werden, übereignet werden an das Größere, an das, was in einer anderen Ordnung steht, im Grunde aber das einzig Notwendige und wahrhaft Wirkliche ist: an das Heilige, den Heiligen – das heißt: weihen, opfern, heiligen.
In der Tat, solche Bestimmung für das Heilige, den Heiligen hat zutiefst mit dem Tod zu tun, mit der Weggabe des Lebens über sich selbst hinaus ins Geheimnis.
Unser Leben lebt von dieser Grenze her, und gerade wenn man sich bemüht, alles zu enttabuisieren, nichts zu immunisieren, schafft man neue Absolutheiten, Tabus, Ideologisierungen. Ohne den Gang an die Grenze, ohne jenen Überschritt, der sie wahrt, [98] ohne das „Weihen“ und „Heiligen“ verliert das Leben Gestalt und Tiefe, es wird flach, fällt in sich zusammen.
Wir alle sind an die Grenze, über die Grenze gerufen. Sterbenmüssen ist unser Leben: Sterbenmüssen aber nicht als bloßes Verschwinden und Vergehen, sondern als Hinübergang, als Begegnung mit dem Geheimnis.
Zwei Fragen zugleich bedrängen uns hier. Die erste: Wie die Begegnung bestehen? Wie also „Gott sehen und nicht sterben“ (vgl. Ex 33,20) – oder sterben und Gott sehen, ohne an ihm die Augen und das Herz zu verbrennen?
Die andere Frage: Wenn Leben Leben zum Tode, zum Geheimnis hin ist, wenn wir dem Tode, besser: durch den Tod dem Geheimnis „geweiht“ sind, was hat dann das Leben, das sich vor dem Tode zu etablieren und zu schützen sucht, für einen Sinn? Also: Wie sollen wir sterben können – wie sollen wir leben können?
Die Opfer, der Kult als Ablösung des eigenen Todes durch die stellvertretende Weihung, Tötung anderen Lebens bezeugen ebenso die Unausweichlichkeit der beiden Fragen wie unsere Ohnmacht, sie aus uns selbst zu lösen. Wir kommen nicht daran vorbei: Nicht nur unser Sterben, wir selbst, unser Leben sind bestimmt, das „Sanctus“ zu singen, sich zu weihen. Paulus sagt: „Angesichts des Erbarmens Gottes ermahne ich euch, meine Brüder, euch selbst“ – und der griechische Urtext sagt es hart: eure Leiber – „als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt; das ist für euch der wahre und angemessene Gottesdienst“ (Röm 12,1).
[99] Die Ermahnung allein löst aber noch nicht die Frage: Wie geschieht das, ja wie kann es geschehen?
Doch hinter der Ermahnung steht die Erfahrung, die neue Erfahrung, besser: die im Glauben ergriffene neue Wirklichkeit: „Wir wissen, daß Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn. Denn durch sein Sterben ist er ein für allemal gestorben für die Sünde, sein Leben aber lebt er für Gott. So sollt auch ihr euch als Menschen begreifen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus“ (Röm 6,9–11).
Zurückübertragen in unser leitendes „Sprachspiel“: „Heilige (sanctifica) sie in der Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt. Und ich heilige mich für sie, damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind“ (Joh 17,17–19).
Es gibt einen, der ganz und gar dem Vater gehört, dessen Leben von Anfang an und bis ins Innerste Hingabe an den Vater ist, dessen Leben „Sterben“ in den Vater ist – und sein Tod ist deshalb Sterben ins Leben, Heimgang zum Vater, Verherrlichung des Vaters und Verherrlichtwerden vom Vater. Sein Leben ist Sterben in den Vater, sein Tod Leben im Vater.
Und wir sind in ihm. Er ist der Stellvertreter für uns. In ihm sind wir geschaffen, er hat unser Leben in seinem Leben, unser Menschsein in seiner Menschwerdung, unsern Tod und unsere Schuld in seinem Sterben auf sich und in sich genommen. Er heiligt sich für uns, auf daß wir in Wahrheit geheiligt seien. In ihm sind wir befähigt, Leben und Sterben zur [100] Gabe an Gott werden zu lassen, Leben und Tod angesichts Gottes zu bestehen (vgl. Phil 1,21; 2,17; 3,7–11).
Sein Leben und seinen Tod können wir kommunizieren, er selbst will unsere Opfergabe werden – und wir werden zur Opfergabe in ihm. Eucharistie ist der Inbegriff und die stets neue Gegenwart seines und unseres Lebens und Sterbens, sein und unser beständiges „Sanctus“.
In ihr verdichtet und vollendet sich das „Wort“ des Vaters, das dieser dem Sohn gegeben hat und in welchem die Heiligung in der Wahrheit geschieht. In diesem seinem Wort, entlang diesem seinem Wort, das Leitplanke, Inhalt, Wort unseres Lebens werden will, geschieht andauernd die Verwandlung unseres Lebens in die heiligende Hingabe unserer selbst, unseres Leibes in die lebendige Opfergabe. Die Ermahnung des Apostels Paulus, die wir vernahmen, setzt sich fort: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: Was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist“ (Röm 12,2).
So können wir das Wort des Sterbenden abwandeln und zu einem Wort unseres Lebens werden lassen: Ich habe Zeit, hier und jetzt, mit dem Leben betend und aus dem Leben heraus betend das „Sanctus“ zu singen.
<sup class="text__reference">[101]</sup> II
Spricht das „Heilig, heilig, heilig“ zu Gott in der zweiten oder von Gott in der dritten Person? Beides zugleich.
Wenn Gott mir heilig ist, dann muß ich es ihm sagen: zweite Person.
Wenn Gott mir heilig ist, dann muß ich es den anderen sagen: dritte Person.
Wenn Gott mir heilig ist, dann drängt Anrede zum Zeugnis und drängt Zeugnis zur Anrede; dann ist Leben Gebet und wird Gebet Leben.
III
Wer betet, der sagt „Sanctus“, er weiht sein Wort, seine Zeit, sein Herz dem Heiligen. Er läßt ihn als den Heiligen aufgehen – und „heiligt sich“. Man kann nicht beten und etwas anderes wollen als ihn, etwas anderes wollen als er. Dann aber hat Beten etwas zu tun mit Heiligwerden, mit der Heiligung des Lebens.
Gebet führt meinen Willen über vier Stufen zur Heiligkeit, zur Einheit mit dem allein heiligen Willen Gottes.
Du bist mir heilig, dein Wille ist mir heilig: ich kann nicht wollen, was du – auch im kleinen und einzelnen – nicht willst (lieber sterben als bewußt in irgend etwas dem Willen Gottes zuwiderhandeln).
Du bist mir heilig, dein Wille ist mir heilig: ich will nichts ablehnen, worum du mich fragst, wozu [102] du mich einlädst (in allem gleichförmig werden mit dem Willen Gottes).
Du bist mir heilig, dein Wille ist mir heilig: ich will von mir her in allem das wollen, was du willst, so wollen, wie du willst, und zwar immer, sofort und mit Freude (in allem – wie der heilige Alfons von Liguori sagt – einförmig werden mit dem Willen Gottes).
Wer so betet, wen Beten bis dahin führt, bei dem ist das eigene Ich, das eigene Sein hineingenommen in das anbetende und kündende „Sanctus“. Er ist ein Heiliger, weil und indem der Herr ihm und in ihm der „solus Sanctus“, der „allein Heilige“ ist.
IV
Der Heilige, das ist noch nicht das Letzte und das Ganze. Die vier Stufen vollenden sich – oder auch: sie werden getragen und geleitet – durch etwas Fünftes: So sehr ich als ich selbst, unvertretbar, mitunter in letzter Einsamkeit das „Sanctus“ zu sprechen und zu leben gerufen bin – ich bin nie allein gerufen. Meinunser Gott, meine Heiligkeit ist unsere Heiligkeit. Heiliges Leben ist Leben der Ecclesia Sancta, Ausdruck und Teilhabe, Geschenk und Auferbauung der Heiligkeit „der Braut des Lammes“. Gott ist
Drei Kennmale prägt dies meinem Beten und Leben auf.
Einmal will ich „meinen Gott“ und „meine Heiligkeit“ nicht für mich allein haben, sondern für die anderen. Ich bete und lebe für ...
Sodann will ich meine Nähe zu Gott und „meinen“ [103] Willen Gottes nicht von mir allein haben. Ich bete aus dem Beten der Kirche und bin jenen gehorsam, die seinen Willen mir zu künden und zu deuten haben. Der Mut zu mir selbst ist nötig, die Vorliebe für mich selbst ist tödlich.
Schließlich bete ich und lebe ich im Ganzen der Gemeinschaft, der Kirche. Sie ist mein Ich, ich bin ihr Ich vor Gottes Du. Erst so ist mein Ich wahrhaft weg – und in dieses Du Gottes hineingegeben. Einförmigkeit mit dem Willen Gottes ist vollendet erst in gemeinsamer Heiligung, im Eingehen in Jesu Testament: Laß alle eins sein, wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin (vgl. Joh 17,21–23).