Sieben Aspekte des Christseins

[98] Am Ende des rationalen Zeitalters

Man spricht heute von einer Reideologisierung der Gesellschaft. Bis vor kurzem hieß das Zauberwort Ideologiekritik. Man versuchte, in allen gesellschaftlichen und persönlichen Verhaltensweisen und zumal in allen Überzeugungen die geheimen Hintergründe eines „Interesses“ aufzudecken, das heißt eines Vorurteils, mit dem eigene Wünsche, Triebe und Ängste die Weichen für das stellen, was man hernach als vernünftig und sachlich begründet ausgibt. Es fehlte selbstverständlich nicht an Kritikern, die den Anschein der Vorurteilslosigkeit selbst als Vorurteil, die Absolutsetzung der Ideologiekritik selbst als Ideologie entlarvten. Nichts desto weniger blieb „reine“, „objektive“ Rationalität Trumpf. Doch sozusagen über Nacht verschwand die Forderung nach voraussetzungsloser Sachlichkeit zwar nicht einfachhin von der Bildfläche, wohl aber aus dem Katalog elementarer Selbstverständlichkeiten. Nicht mehr zweckfreie, sondern gesellschaftsbezogene, entwicklungsfördernde, Handlungsmodelle aufstellende Wissenschaft ist heute vor allem gefragt. Das ist, wenigstens zum Teil, recht bedenklich. Das kann zu einer fatalen Manipulierung des Bewußtseins und auch der Tatsachen mißbraucht werden. Und doch wird an diesem Umschlag etwas deutlich: das innere Ende des Zeitalters der bloßen Wissenschaft. [99] Die Ummünzung aller Daten und Fakten der Welt- und Selbsterfahrung in Zählbarkeit, Experimentierbarkeit, Erklärbarkeit und Wißbarkeit war in der Tat prägend für die gesamte Neuzeit. Alle Entwicklung und aller Fortschritt der Wissenschaft, der Technik, der Gesellschaft hängen zusammen mit diesem methodischen Grundansatz. Im Versuch der totalen Erklärung des Bestehenden und der totalen Planung des Kommenden erreicht er seine Grenze. Was ist damit erklärt, wenn alles erklärt ist? Kann der Mensch noch leben, wenn alles verplant ist? Diese Fragen bedrängen den Menschen. Er will wieder Maßstäbe haben. Aber auch abgesehen davon, fühlt er sich beengt, versklavt im Apparat, den sein eigenes Wissen ihm als Gehäuse seines Lebens konstruiert hat. Auf der einen Seite gibt es Spezialisten, die einen kleinen Sektor genau und immer genauer durchschauen und beherrschen – aber vom Rest, aus und in dem sie doch leben müssen, nichts mehr verstehen; auf der anderen Seite braucht man Manager, die das Ganze operationalisieren und zusammenhalten – aber entweder befürchtet man in ihnen die geheimen Manipulatoren, die für ihre eigenen und undurchsichtigen Ziele den Apparat mit all seinen Spezialisten laufen lassen, oder sie bleiben bloße „Conferenciers“ einer ungeheuren „Show“, die aus [100] im Grunde zusammenhanglosen Nummern ziemlich beliebig zusammengebaut ist. Ein tiefes Unbehagen an der bloßen Rationalität, die doch nicht leistbar ist und, wenn sie leistbar wäre, den Menschen leer ließe, breitet sich aus. Der Hang zur Reideologisierung ist nur ein Zeichen unter anderen. Daneben gibt es auch die innere Emigration aus einer Fortschrittsgläubigkeit, die die Entwicklung der Wissenschaft und die Evolution der Menschheit zu immer höherem Glück automatisch gekoppelt sah. Man verspricht sich nicht mehr viel von dem, was das Wachstum des Wissens für die Humanisierung leisten kann; man sieht dennoch keine Möglichkeit, dem Grundgesetz des rationalen Zeitalters zu entrinnen und kultiviert Wissen um des Wissens willen, spielt sozusagen mit den reinen Formen der Rationalität, begnügt sich mit einem wissenschaftlichen „l’art pour l’art“. Noch stärker drängt allerdings eine weitere Bewegung nach vorne: Anstelle der quantitativen Vermehrung des Bescheidwissens hat man den Hunger nach „Erfahrung“, nach einem qualitativ neuen und anderen Wissen, in dem man Tiefe und Fülle der Existenz zu verkosten sucht, nach Erweiterung und Veränderung des Bewußtseins in Richtung auf ein imaginäres „Innen“ – neue Formen von Mystik, neue Experimente der Selbsterfah-[101]rung, neue Belebung der Fantasie und Imagination sind die Zeichen dafür. Wissen, um handeln zu können, Zielkonzepte für die Praxis also; ästhetischer Genuß des Wissens um seiner selbst wissen; eine Mutation des herkömmlichen Wissens ins verkostende Erfahren von Sinn oder Sinnersatz: das scheinen die Alternativen zu sein, nach denen eine von ihrer Rationalität enttäuschte oder überanstrengte Gesellschaft auslangt. Aber sind das Alternativen? Bleiben sie als Protest oder Resignation nicht doch dem Ansatz verhaftet, an dessen Tragfähigkeit man zweifelt? Und sind sie im letzten nicht doch wieder ein Habenwollen, ein Verfügenwollen, ein Sich-selber-Wollen, ein Nicht-loskommen von sich selbst? Dies scheint überhaupt die Not des Wissens und aller Formen von Wissen zu sein: Wissen bedeutet Hinauswachsen über sich selbst, überschreiten der eigenen Grenze; aber wenn das Wissen über die eigenen Grenzen hinausreicht, so zieht es doch das, was es erreicht, gerade damit in die eigenen Grenzen hinein. Wissen, wie immer es sich wendet, droht den, der weiß, allein zu lassen mit seinem Wissen. Lassen wir diese Frage einmal auf sich beruhen. Menschen streben nicht nur nach Wissen, Menschen streben auch nach Weisheit. Beides hat offenbar mitein-[102]ander zu tun, beides ist aber nicht einfachhin dasselbe. Was weiß denn der, der weise ist? Nicht notwendig das, was der Wissenschaftler oder auch der „Gebildete“ weiß, nicht notwendig das, was ein „kluger Kopf“ durch ein bißchen Anstrengung mit seiner eigenen Intelligenz herauskriegt. Wer weise ist, weiß die Grenzen, er ist gefeit gegen Überschätzungen und Übertreibungen. Er kann also unterscheiden; aber seine Unterscheidung erschöpft sich nicht in der „Definition“. Mit dem, was er weiß, weiß er zugleich, daß er damit und mit dem Wissen überhaupt nicht alles weiß. Wer weise ist, weiß auch die Zusammenhänge. Er kennt nicht nur die „Schubladen“, in die er die einzelnen Daten unterbringen, die „Etiketten“, die er ihnen aufzukleben hat. Er sieht „mehrdimensional“; das Einzelne hat einen Platz im Ganzen, es liegt auf Linien, die weiterführen, es weist auf anderes, es weist zumal auf das hin, was es mit dem ganzen Leben und mit allem, was ist, auf sich hat. Daher bringt das Plötzliche und Unerwartete den Weisen nicht aus der Fassung; er ist aber dem Bedeutsamen gegenüber, gleichviel ob es sich als solches gibt oder nur recht unauffällig sich bemerkbar macht, nicht harmlos; weil er die Zeit kennt, erkennt er auch ihre Zeichen. Wer weise ist, weiß um die Ursprünge. Das ist etwas [103] anderes als ein „kausales Denken“. Ursachen erklären, Ursprünge lassen verstehen. Hinter Ursachen kann ich kommen, Ursprüngen muß ich begegnen. Der Umgang mit den Ursprüngen macht kritisch, kritisch aber auch gegen jene Kritik, die bloß besser weiß, die bloß entblättert und entlarvt. Wer weise ist, der nennt die Dinge beim Namen. Die Zahl genügt ihm nicht, und der Name, den der Weise nennt, ist mehr als eine Vokabel. Den Namen, den er hört, haben die Dinge ihm selbst gesagt. Und so hören ihn, recht verstanden: ge-hören ihm die Dinge, wenn er sie anspricht. Er verfügt nicht über sie, um etwas mit ihnen zu bewerkstelligen, sondern er wahrt sie und wahrt darin jenes Maß und jene Harmonie, in der alles zusammengehört. Die Züge, die uns hier auffallen, spiegeln manches von dem, was in den Büchern des Alten Testaments von der Weisheit Gottes gesagt ist und was immer wieder in der christlichen Tradition aufgegriffen wurde. Es ist mehr als Spielerei, wenn die Linien von der „Weisheit“ oftmals zum innersten Geheimnis Gottes, zu seinem dreifaltigen Leben ausgezogen wurden. Der Mensch ist ständig versucht, alles aufs Wissen zu setzen. Ohne Erkenntnis wären auch seine elementarsten Triebe stumpf und tot; ohne ihre Erkennbarkeit wären die Dinge nichts für sein Haben [104] und Genießen. Nur als Erkennender reicht der Mensch über sich selbst hinaus, nur als erkannt reicht die Welt in ihn hinein. Und doch ist das Licht nicht das Erste, sondern jene Liebe, die Licht gibt. Die erste, innerste „Bewegung“ Gottes, nicht nur jene, der sich die Schöpfung und die Erlösung verdankt, sondern jene, die Gottes eigenes Leben in sich selber ist, ist die Bewegung der Liebe: Der Vater tritt liebend über sich hinaus und zeugt den Sohn, das Wort, das Licht, in dem er selbst und alles hell ist. Das erste – und im Grunde alles –, was das Wort sagt, was der Sohn weiß, was das ewige Licht erleuchtet, ist: Liebe. Die Liebe, die Gott ist, ist nie ohne dieses Licht; dieses Licht gehört ihr innerlich, gleichwesentlich und gleichursprünglich zu; aber das Licht ist nicht Licht seiner selbst, sondern Licht der Liebe. Liebe und Licht haben sich schon je einander geschenkt; sie verstehen sich je voneinander her und aufeinander hin. Ihr Sich-Schenken aber, in dem ihr Zusammenhang und ihr Unterschied offenbar wird, ist der Heilige Geist, jenes lebendige Band, das es uns zeigt und schenkt: nur die Liebe gibt Licht – Licht aber ist immer Licht der Liebe. Dies aber ist die Weisheit Gottes, die uns in Jesus Christus und in der Gabe seines Geistes erschlossen ist. Es ist eine Weisheit, die wir gerade dann nicht haben, wenn es [105] uns nur um sie geht, wenn wir sie selbst wieder haben wollen. Nur der ist weise, der die Grenze aller Weisheit kennt, jene Grenze, die sie in den Zusammenhang der Liebe weist. Nicht Wissenwollen, auch nicht Weiseseinwollen ist das Erste, sondern Gottes Sich-Verschenken. Unser Erstes aber ist die Leere, die sich beschenken läßt, die sich weggibt, sich öffnet über sich selbst hinaus – und die gerade darin dem entspricht, was sie empfängt, dem Sich-Öffnen, dem Sich-Verschenken Gottes. Wer nicht durch den innersten Verzicht auf das Licht hindurchgeht, der bleibt blind für das Licht, das keinem verfügenden Sehenwollen scheint. Um diesen innersten „Absprung“ des Menschen von seinem Sehenwollen und Wissenwollen geht es; denn nur so kommt der Mensch wahrhaft über sich selbst hinaus, nur so öffnen sich ihm Ursprung und Zusammenhang, nur so schenken sich ihm die „Namen“ der Dinge, ja der Name Gottes selbst, Name, der nicht nur eigenes Gemachte, eigene Projektion, sondern lebendiger Kontakt, lebendiges Sich-Mitteilen bedeutet. Dieses Nichtwissen ist radikaler als das philosophische Nichtwissen des Sokrates, der wußte, daß er nichts weiß, und sich so ins Staunen und Fragen öffnete. Es ist das Nichtwissen Mariens, die den Engel fragte: „Wie soll das geschehen?“, die den Zwölf-[106]jährigen nicht verstand, als sie ihn im Tempel traf, die unterm Kreuz das Dunkel ihres Sohnes teilte und in ihr Herz nahm. Maria ist das Sich-Verschenken der kreatürlichen Leere an die Liebe Gottes, ohne von ihr etwas zu fordern oder zu erwarten; und gerade so findet in ihr diese Liebe ihren Weg in die Welt, wird sie in ihr hell für die Menschen. Die Nichtwissende wird zum Sitz der Weisheit. Die Nichtwissende unterm Kreuz führt uns hin zu jenem Nichtwissen, mit dem sie kommuniziert, zum Nichtwissen des Gekreuzigten, zur Torheit des Kreuzes. Am Gekreuzigten wird offenbar, was alles Habenwollen und Wissenwollen des Menschen aus sich selbst letztlich ist: Dunkelheit, Leere, äußerste Einsamkeit. Der Vater hat ihn dorthin gestellt, wo wir sind, er ist der „Ecce homo“, er hat sich für uns zum Fluch und zur Sünde gemacht. An ihm können wir im Klartext ablesen, was wir sind, wenn wir nur auf uns selber bestehen; was wir sind, wenn wir allein sind. Er ist, gerade in seinem Abgeschnittensein und Ausgespanntsein das „Licht“, in dem wir unsere eigene Situation erkennen können. Er ist gerade darin aber auch das „Licht“, in dem Gott als die Liebe hell ist; denn es ist Jesus nicht widerfahren, daß er in die Verlassenheit des äußersten Warum geriet, es ist vielmehr der Wille des Vaters gewesen, [107] dem er sich überantwortete. Ein grausamer Wille? Im Gegenteil: der Wille der unbedingten Liebe, sein Innerstes und Eigenstes dorthin zu geben, wo der Geliebte, wo der Mensch, wo die Welt ist. So wird im Gekreuzigten der Mensch, so wird im Gekreuzigten die Liebe des Vaters, so wird im Kreuz aber auch der Sohn offenbar: er kann sich menschlich, in den Dimensionen der Kreatur, nicht tiefer und deutlicher darstellen als der Gehorsame, der von sich selbst Leere, der nicht aus sich selber, sondern aus dem Vater Lebende. Er ist nicht sein eigenes Licht, sondern das Licht der Liebe, die ihn zeugt und sendet, und gerade darum ist er Licht, Licht, das nicht nur deutlich macht, sondern auch hell macht. So wird an einem und demselben Punkt, wird in der einen und selben Dunkelheit des Karfreitags die Liebe des Vaters, die Herrlichkeit des Sohnes und schließlich die Armseligkeit und Erlösung des Menschen und der Welt offenbar. Dies aber ist Gottes Weisheit. Und hier auch zeigt sie uns den Weg. Dieser Weg ist, radikal gesagt, die beständige Kommunion mit dem am Kreuz in unsere Verlassenheit hineingespannten Christus. Mit ihm gilt es, stets von uns weg, stets über uns hinaus zu sein, nicht verfügend, nicht wissen wollend, nicht selber etwas könnend, sondern vernehmend, gehorsam, uns schen-[108]kend. Und es gilt zugleich, alles, was wir in uns und in der Welt finden, loszulassen an ihn, der es schon angenommen, der es schon in sich hineingenommen hat, ihn aber, seinen Gehorsam, seine Liebe, sein Hinsein zum Vater und sein Hinsein zu allen als unser Innerstes und Eigenstes hineinzunehmen in uns. So werden wir in jedem Menschenantlitz, so werden wir in jeder Situation unseres Lebens, so werden wir in allen Fragen und Problemen der Welt ihn selbst, das Antlitz dessen erkennen, der sich mit all dem liebend identifiziert hat. Er ist der Zusammenhang von allem, und ihn können wir in allem je neu beim Namen nennen.