In Jesus ein Vater durch das Evangelium werden

[47] Rudolf Herrmann kannte ich bereits als Junge, weil er Spiritual bei den Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul in Freiburg war, mit denen mein Vater in einer ständigen Beziehung stand. Das Ungewöhnliche der Persönlichkeit von Rudolf konnte ich bereits damals erahnen.

Tiefer lernte ich ihn freilich erst kennen, als ich von September 1951 bis Mai 1952 als Seminarist im Priesterseminar St. Peter war. Rudolf hatte damals schon den Ruf eines ganz ungewöhnlichen Spirituals. Umso mehr war ich von der ersten Exhorte enttäuscht, die nach meinem Eindruck so gar nichts Besonderes, sondern eher etwas Brav-Alltägliches an sich hatte. Aber es ließ anderen und mir doch keine Ruhe und so trafen wir uns spontan auf einem Zimmer und sprachen darüber. Mein späterer Nachfolger als Akademiedirektor in Freiburg, der früh verstorbene Helmut Gehrig, war der einzige, der sofort den inneren Rang von Rudolf erkannte. Wir faßten den Entschluß, uns jeden Abend zu einem geistlichen Gespräch zu treffen. Dabei fielen uns schon nach kurzer Zeit die Schuppen von den Augen und wir suchten nach einer nahen und tiefen Beziehung zu Rudolf. An Sonntagen öffneten wir unseren Kreis für alle, die dazu kommen wollten, und luden Rudolf zu uns ein. Er wurde binnen kurzem zur unbestrittenen geistlichen Autorität in unserem Weihekurs, der mit 52 Weihekandidaten die größte Nachkriegsstärke erreichte. Höhepunkte waren für uns seine Subdiakonats- und Diakonatsexerzitien, aber auch seine Exhorten und Spiritualitätsvorlesungen.

Es war für uns selbstverständlich, daß wir nach der Weihe den Kontakt mit Rudolf aufrechterhielten. So organisierten wir in unserem Kurs ein jährliches Exerzitientreffen, das sich, von einem kleinen Kreis ausgehend, an den ganzen Kurs und dann auch an die nachfolgenden Kurse wandte.

[48] In dieser Zeit zwischen 1952 und 1956 war ein Hauptmotiv in dem, was Rudolf uns mitteilte, folgendes: Priester sein, gerade Weltpriester sein geht nicht allein! Wir müssen eine viel dichtere Gemeinschaft leben. Wir baten Rudolf darum, eine Weltpriestergemeinschaft zu gründen. Dies lehnte er aber strikt ab. Er sei kein Gründer, vielmehr gelte es, sich einem „Charisma der Kirche“ anzuschließen. Deshalb machte er sich auf die Suche nach einem solchen kirchlichen Charisma, das unseren Bedürfnissen und unserer inneren Unruhe antwortete. Seine Besuche und Begegnungen mit bedeutsamen Initiativen, etwa im Umkreis von Charles de Foucauld oder Kardinal Suenens, sowie sein Einsatz für unsere tägliche persönliche Stunde der Anbetung waren hilfreich und strukturierend. Dennoch spürten wir, daß etwas Entscheidendes fehlte.

Dann kam das Jahr 1957. Im Sommer ging Rudolf zu Pater Lombardi und war von ihm tief beeindruckt. Dieser sagte zu ihm, daß das, was er in der Theorie anbiete, bei der Fokolarbewegung in die Praxis umgesetzt würde. Um dies zu erleben, solle er auf die Mariapoli nach Fiera di Primiero in die Dolomiten gehen. Rudolf ging unverzüglich dorthin, und ich erinnere mich noch lebhaft, wie er an einem Tag im August 1957 in unsere kleine Wohnung in Freiburg hereinstürmte und ausrief: „Klaus, ich hab's!“ Von dem, was er gefunden hatte, erzählte er auf so eindrucksvolle Weise, daß auch für mich kein Zweifel blieb: Das, worum es uns seit Jahren gegangen war, wurde uns hier von Gott geschenkt. Rudolfs „Botschaft“ verbreitete sich, es gab erste Treffen und Gespräche, und 1958 und 1959 gingen viele Freiburger Priester und Theologen mit Rudolf zusammen oder von ihm angeregt nach Fiera di Primiero.

Mich berührte tief, was Rudolf als Kennzeichen dessen herausstellte, was er bei der Mariapoli entdeckt hatte: Zunächst erschien es ihm ungewöhnlich und erinnerte ihn an Sekten oder Erweckungsbewegungen, daß da Laien und zumal Frauen über das Evangelium sprachen. Aber im Zuhören wandelte sich dieser Eindruck: Was sie sagten, war ganz und gar Evangelium, war geprägt vom absoluten Zurückstellen der eigenen Impulse hinter ein bedingungsloses Ja zur Kirche. Die Struktur des Dargebotenen war für ihn identisch mit der Struktur des Evangeliums an sich, mit einem Gott im [49] Zentrum, der die Liebe ist und die Liebe fordert. Die sichtbaren Früchte von Bekehrungen und Berufungen sowie die Bezeugung durch das Leben bedeuteten für ihn weitere Kriterien der Echtheit. Sofort faßte er das Wesentliche des dort Erlebten in knappen Zügen zusammen, so daß es in seinem Glanz und seiner Tiefe die, denen er es weitergab, unmittelbar anging und überzeugte. Auf der einen Seite entsprach das Neue ganz und gar dem, was er uns schon vorher als die entscheidenden Züge des Evangeliums und unserer priesterlichen Berufung ans Herz gelegt hatte. Auf der anderen Seite war ebenso deutlich, daß ihm hier nicht nur eine Bestätigung seiner eigenen Predigt begegnet war, sondern eine Kraft, ein Ereignis, auf die seine eigene Botschaft sozusagen „adventlich“, „prophetisch“ hinwies.

Die Mitte des Evangeliums hieß für ihn ganz eindeutig: Gott ist die Liebe. Glauben war Glauben an die Liebe. Dabei denke ich an seine Betrachtungen über Psalmverse nach der damaligen pianischen Übersetzung aus Psalm 56 (55) und Psalm 68 (67): „Eines weiß ich genau: Gott ist für mich!“ – „Gott trägt unsere Lasten“, an seine Betrachtung über Gal 2, 20, wo er im Glauben an den, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat, die Mitte unseres Christusbekenntnisses erkannte, sowie eine Exhorte über „Habete fidem!“, womit der Glaube an die Liebe gemeint war.

Ein anderes Grundmotiv war die gelebte Communio miteinander, die gegenseitige Liebe. Rudolf legte größten Wert darauf, daß wir nicht „große“, sondern „kleine“ Priester sein sollten. Das Mariengebet von Olivaint hatte für ihn eine zentrale Bedeutung: „Jesus, der du lebst im Herzen Mariens, komm und lebe im Herzen deiner Diener ...“. Schließlich stützte er sich immer wieder auf die Heilig-Geist-Orationen, die uns den Geist als den, der unser Innerstes kennt, und als jenes Feuer, das Christus auf die Erde brachte und von dem er wollte, daß es brenne, vor Augen stellen. Diese Leitmotive waren also schon da, und doch war das im Fokolar Erlebte für Rudolf etwas ganz Neues, weil es eben aus einem vollmächtigen, wirkkräftigen Ursprung sich in seiner Plausibilität sozusagen von selber schenkte. In den folgenden Jahren leistete Rudolf Herrmann für die Wirkung und Strahlkraft des Charismas der Einheit unter den Priestern, aber [50] nicht nur unter ihnen, wichtige Dienste. Dabei betonte er immer wieder, daß es nicht genüge, die Gnade eines gottgeschenkten Charismas einfach zu übernehmen und sozusagen von sich aus zu leben. Vielmehr sei die Wirkung des Geistes in der Kirche inkarnatorisch, konkret. Daher ist es notwendig, das Wasser des Geistes aus der Quelle zu trinken, die Gott nun einmal entspringen ließ. Gleichzeitig verkörperte Rudolf Herrmann eine große Offenheit, da er in seiner Verkündigung und geistlichen Führung niemanden vereinnahmte. Für uns, die wir mit ihm in diesem Charisma eine Antwort Gottes auf unsere Frage erkannten, war klar, daß wir uns daran verlieren, uns ganz einfach „anschließen“ sollten. Für mich blieb die Beziehung zu Rudolf Herrmann auch nach meinem Weggang 1968 von Freiburg kostbar und wichtig, auch wenn ich ihn äußerlich nicht mehr im einzelnen so beobachten und sein Wirken verfolgen konnte wie zuvor. Mich hat sehr bewegt, wie großen Wert Erzbischof Oskar von Freiburg darauf legte, daß Rudolf Herrmann nicht den Wunsch weiterverfolgte, sich zur Ruhe zu setzen und dann nach Ottmaring bei Augsburg zu ziehen, um für die Fokolarbewegung zur Verfügung zu stehen. In bewegenden Worten hatte Erzbischof Oskar mir in dieser Situation vor Augen gestellt, daß für ihn Rudolf und das Erzbistum Freiburg und seine Priester untrennbar zusammengehören. Beides scheint mir kennzeichnend: Bereitschaft und, wie ich wohl sagen darf, Wunsch von Rudolf, ganz für die Fokolarbewegung dazusein, aber auch Bereitschaft und Freude, ganz dem Ort treu zu bleiben, an den der Wille des eigenen Bischofs ihn stellt. Die Wirksamkeit Rudolfs wird für mich von dem Lebenswort her verstehbar, das er von Chiara Lubich erhielt: „Hättet ihr auch un-gezählte Erzieher in Christus, so doch nicht viele Väter. Denn in Christus Jesus bin ich durch das Evangelium euer Vater geworden“ (1 Kor 4,15).