Vorspiel zur Theologie

Abstand und Nähe der Ansätze

Als wir vom Interesse handelten, zogen wir Gedanken des Thomas von Aquin über das Gute und die Freiheit heran. Bei der Erörterung des Daseinsspiels berührten wir die Wege des Anselm und Thomas, die aus dem Verstehen des Seins zur Erkenntnis des Urseins vorstoßen. Sprache legte sich uns aus auf Wahrheit hin, und hierbei kamen scholastische Formeln für Wahrheit ins Spiel. Unser Vorgehen war insgesamt gewiß nicht bloß eine Aktualisierung von Scholastik, eine Übersetzung vorgegebener Gedanken ihrer Tradition. Und doch darf uns auffallen, daß die herangezogenen Motive und Denkfiguren in einen festumrissenen Kontext dieser scholastischen Tradition weisen: in die Lehre von den Transzendentalien, von den transzendentalen Bestimmungen des Seienden. Drei von den sechs, anders gewendet: vier von den sieben Transzendentalien der Scholastik bezeichnen die Achse der verschiedenen [75] Grundspiele, die sich uns im unmittelbaren Hinblick auf Vorgänge unseres Lebens und unserer Welt erschlossen. Dem Interesse ist das bonum (Gutsein), dem Dasein das ens (Sein), der Sprache das verum (Wahrsein) zugeordnet, pulchrum (Schönsein) – geschichtlich ein nachgetragener Titel in der Transzendentalienlehre – entspricht dem Spiel.

Anlaß genug, den Umriß der scholastischen Transzendentalienlehre unmittelbar ins Auge zu fassen. Anlaß um so mehr, als eine Hinführung zur Theologie nicht eigentlich daran vorbeidarf, daß im scholastischen Denken viele Grunddaten und Grundgedanken von Theologie überhaupt jene Gestalt gefunden haben, die in der Überlieferung mächtig blieb. Ein solcher Befund kann sicher nicht heißen, daß die Theologie ihre traditionellen Formeln festschreiben, nicht an ihnen weiter- und über sie hinausdenken soll. Dieses Weiter- und Hinausdenken setzt aber ein Kennen und Verstehen und setzt überdies die Bereitschaft voraus, das Überlieferte ernst zu nehmen und zu wahren und von ihm, auch vom Befremdlichen an ihm, sich neue Anstöße geben zu lassen.

Wir haben freilich nicht im Sinn, in historischer Präzision, mit Quellenbelegen und Einzelanalysen, die scholastische Transzendentalienlehre zu referieren. Es ist uns vielmehr um einen grundsätzlichen Zugang zu ihren Gedanken zu tun, der das andere unseres eigenen Zugangs schärfer ins Licht hebt und uns zugleich ermöglicht, von einer anderen Seite zum selben vorzustoßen und dieses selbe von unserem Standpunkt aus neu zu sehen.

Was transzendentale Bestimmungen in der Scholastik meinen, wird am leichtesten verständlich, wenn wir sie [76] abheben von den anderen Grundbestimmungen des Seienden, welche die Scholastik ebenfalls entwickelt, von den Kategorien. Wenn von Scholastik in diesem Zusammenhang die Rede ist, so müßte eigentlich jeweils auf den aristotelischen, zumal bei den Kategorien, und auf den platonischen Hintergrund zurückverwiesen und es müßte ebenso vorausverwiesen werden auf manche Entwicklungen in der Spät- und Neuscholastik. Dies aber würde unseren Rahmen sprengen.

Wie aber kommt es zu den unterschiedlichen Grundbestimmungen des Seienden, den Kategorien und den Transzendentalien? Zwei elementare Beobachtungen markieren den Ansatz. Die eine: das, was ist, das Seiende ist verschieden. Die andere: das, was ist, das Seiende ist und ist sich darin gleich, kommt darin überein.

Die Verschiedenheit des Seienden macht es notwendig, das, was ist, einzuteilen, Familien, Gruppen von Seienden zu bilden, die nicht willkürlich, sondern von sich her, von ihrem Sein her zusammengehören. Rot, Blau und Grün sind Farben. Hund und Katze sind Tiere. Tiere und Pflanzen sind Lebewesen. Was die Dinge sind, unterscheidet sie und bringt sie in einen Zusammenhang. Die Scholastik liest daraus Arten (species) und Gattungen (genera) ab. Die Gattungen umfangen mehrere Arten – Pflanzen, Tiere und Menschen sind die Arten, die von der Gattung Lebewesen umspannt werden. Schon Aristoteles stieß nun vor zu obersten Gattungen, über die man nicht mehr hinauskann, zu Einteilungen, die sich nur noch durch das eine zusammenfassen lassen, durch das „ist“, durch das Sein. Diese obersten Gattungen heißen nun Kategorien. Sie sind die Grundweisen, wie das Wörtchen „ist“, wie Sein dem Seienden zukommt, die ersten und fundamentalen Grundweisen des [77] Seins und Sagens also. Die Kategorien stehen so nebeneinander, ihre Klammer ist das Sein, das aber Farbe und Kontur, seinen je konkreten und unterschiedlichen Klang erst in den Kategorien erhält. Bei Aristoteles gibt es zehn solcher Kategorien. Der weittragendste Unterschied liegt zwischen der ersten und den neun übrigen. Die erste Kategorie nämlich ist die Substanz, das, was in sich selber ist, das, was im eigentlichen Sinn Seiendes genannt werden kann. Wir können uns dies durch den Ausdruck „die Dinge“ am besten vor Augen stellen, wobei freilich auch Menschen und Engel Dinge wären, alles eben, was in sich selber steht. Demgegenüber sind die Akzidentien (Qualität, Quantität, Beziehung, Tun, Erleiden, Wo, Wann, Lage, Verhalten bzw. Zustand) etwas am Seienden, etwas vom Seienden. Sie haben ihr Sein nicht in sich, sondern nur in dem Seienden, das sie trägt. Die Qualität „rot“ kommt nicht etwa an sich vor, sondern nur an etwas, das rot ist. Die Lage „links“ gibt es nicht an sich, sondern links bestimmt das Verhältnis von etwas zu einem anderen.

Die Weise, wie bei Aristoteles und in der Scholastik das Seiende eingeteilt wird, bezeichnet einen Vorentscheid für das Verständnis von Sein. Sein wird auf das Ding, auf die Substanz, somit auf das In-sich-Sein, auf den Selbststand, auf das Sich-Durchhalten und das Bleiben hin gelesen. Beziehung wird in solcher Sicht zur schwächsten Weise des Seins. Die letzten vier Kategorien lassen sich auf die der Beziehung zurückführen; Beziehung selbst wird verstanden als zufälliges, zusätzliches Verhältnis eines Seienden zu einem anderen.

Dieser Vorentscheid wird jedoch überholt, zumindest relativiert durch die andere Weise, das Sein und das Seiende zu betrachten, die in den transzendentalen Be-[78]stimmungen zum Zuge kommt. Wir sagten es schon, das Seiende ist nicht nur verschieden, es kommt darin überein, daß es ist. Dieses „ist“ aber ist mehr als bloße Vorhandenheit, als bloße Faktizität. Indem etwas ist, lassen sich mehrere Bestimmungen zugleich von ihm aussagen. Und das, was sich von allem Seienden aussagen läßt, bezeichnet die Grundaspekte von Sein überhaupt, Dimensionen des Seins, die sich so weit erstrecken wie dieses selbst und sich in allen seinen Abwandlungen und Differenzen mitabwandeln und mitdifferenzieren. Transzendental heißen diese Bestimmungen, weil sie alle Grenzen zwischen Seienden transzendieren (überschreiten), weil sie im vorhinein von allem gelten, was sein kann. Durch die transzendentalen Bestimmungen verliert der Begriff des Seins seine Leere, seine bloße Formalität. Und sein Inhalt wird – dies gerade ist bedeutend in einem von der Substanz her geprägten Denken – nicht allein und nicht zuerst vom Stehenbleiben, vom Bestand, von der Widerständigkeit gemessen, sondern – im Vorgriff gesagt – vom Geschehen, von einer Beziehung, die sich nicht in der kategorialen erschöpft, will sagen in der Beziehung zwischen Ding und Ding oder Teil und Teil.

Vier transzendentale Bestimmungen kennen wir bereits: bonum (Gutsein), ens (Sein), verum (Wahrsein), pulchrum (Schönsein) – die Ordnung ist nicht klassischen Aufzählungen, sondern der Folge unserer Grundspiele entlehnt. Drei weitere bleiben zu nennen: unum (Einssein), aliquid oder aliudquid (Anderssein), res (Sachhaltigsein, Etwassein). Die Bedeutung und das Verhältnis der einzelnen Bestimmungen wird uns noch eigens beschäftigen.

Vorab sei auf zwei formale, in der Konsequenz aber höchst bedeutsame Motive der Transzendentalienlehre [79] verwiesen. Einmal: Alle Transzendentalien sind konvertibel, das heißt, weil sie deckungsgleich sind, gilt überall dort, wo eines von ihnen gilt, im selben Ausmaß auch jedes andere. Weil und sofern etwas eins ist, ist es also auch gut, wahr und schön. Zum anderen: Die Transzendentalien sind Bestimmungen des Seins, sie legen den Sinn von Sein aus. Sie sind aber auch – und dies steht in der Scholastik sogar im Vordergrund – die Ureigenschaften des Seienden.

Die Grundentscheidung für das dinghaft Seiende drängt indirekt wieder vor. Das Interesse konzentriert sich aufs Seiende, auf das Ding. Die Grunddimensionen des Seins werden als Eigenschaften an diesem Seienden, als sein Gehalt, als seine Bestimmung, als das verstanden, was in ihm selbst unmittelbar anzutreffen ist. Daß jenes, was das Seiende bestimmt, indessen zugleich den Sinn von Sein bestimmt, hebt auf andere Weise das Seiende wieder über seine bloße Gegenständlichkeit hinaus: es wird zur Stätte, zum Bild und Gleichnis des Ganzen, des Seins selbst.

Dieser Bildcharakter grenzt in der lebendigen Erfahrung des Denkens das mittelalterliche „Seiende“ in etwa vom neuzeitlichen „Gegenstand“ ab. An der Schönheit dieser Blume sieht der mittelalterliche Mensch die Schönheit selbst, jene Urschönheit, die alles schön macht. Und somit wird das Seiende in seinem Selbststand, in seinem Eigenen und Bleibenden zum Pol einer Beziehung, die zum Ursprung schlechthin, zum Unbedingten führt – eine Sichtweise, die so im neuzeitlichen Denken nicht mehr vorkommt.

Transzendentale Bestimmungen und zudem diese transzendentalen Bestimmungen des Seienden und des Seins – das drängt uns die Frage auf, ob auch unser heuti-[80]ges Denken zu transzendentalen und zu diesen transzendentalen Bestimmungen käme. Die Antwort müßte unmittelbar wohl nein, mittelbar kann sie jedoch ja heißen.

Nie scheint die Welt, nie scheint alles mehr eins gewesen zu sein als gerade heute. Eins durch die alles verspannende funktionale Abhängigkeit eines jeden von jedem, eins durch das, was diese Abhängigkeit trägt und ermöglicht: Naturwissenschaft und Technik. Aber in der Einheit von Naturwissenschaft und Technik gibt es nicht mehr das Sein, nicht mehr das Seiende, sondern nur Daten und Vorgänge. Meßbarkeit, Berechenbarkeit und Steuerbarkeit kämen so als unsere „Transzendentalien“ in Betracht. Aber greifen sie wirklich alles, was wir erfahren, alles, was wir zu bestehen haben, alles, was uns angeht? Nicht weniger Recht als die Aussage der perfekten Einheit von allem in Maß und Zahl und Machbarkeit hätte die andere: daß die Welt, daß das Leben auseinanderbricht, daß das Ganze, die Einheit, wir selbst uns entgehen.

Gerade deshalb haben wir zu fragen angefangen, wo vielleicht doch die vielfältigen Erfahrungen Ansprüche und Anläufe unseres Daseins in eins finden. Wir gingen dabei nicht von Seiendem aus, das vor uns steht und in sich seine Konsistenz zeigt. Wir gingen aus von den Richtungen, von den Bahnen, in denen unsere Erfahrungen, Ansprüche und Anläufe sich bewegen. So stießen wir auf die Grundspiele, so auf die scheinbar paradoxe Struktur von Spiel. Unsere Frage heißt also nicht mehr wie im Mittelalter: Wie ist alles?, sondern: Wie geht alles, wie spielt es sich ab und spielt alles zusammen? Die Frage nach dem Geschehen und in der Konsequenz nach der Geschichte hat die Führung übernommen.

Der mittelalterliche Mensch stand in einer gefügten [81] Ordnung, und vor ihm stand das Seiende, das er betrachten konnte, um in dieser Betrachtung sich über es hinaustragen zu lassen ins Ganze und übers Ganze, in dessen gewährenden Grund und Sinn. Wir finden uns, ohne Stand, in der Bewegung, im Vorgang, und nur in dieser Bewegung und in diesem Vorgang erschwingen wir den Zusammenhang, das Ganze. Nicht das Seiende trägt uns zum Sein, sondern im Fortgang, im Geschehen legt Sein sich uns aus, spricht Sein sich uns zu. Auf unserem so anderen Weg begegnen uns nun die Bestimmungen des Mittelalters, die aufs Wort zu bringen versuchen, wie alles ist. Schauen wir näher in diese Bestimmungen hinein, dann lebt in ihnen selbst etwas wie Beziehung, wie Geschehen, dann sagt sich Sein selber in ihnen als Ereignis, als Geschehen. Darum lohnt es, unser Denken mit solchem Denken ins Gespräch zu bringen.