Wovon Hemmerles Gedichte erzählen

Altstadt-Düfte

Du mußt die Augen schließen
und die Sinne öffnen
und durch die Altstadt gehen.
Grundton Holzkohlefeuer,
Dominante Meerfrische,
Zwischentöne vom Fischmarkt,
Untertöne Knoblauch.
Viele Obertöne, immer wieder
Rosmarin.

Klaus Hemmerle war ein spekulativer Kopf, der schier alles in eine Einheit hinein aufzuheben wusste. Andererseits hatte er Freude, eine geradezu kindliche Freude daran, herauszuschmecken, welche Gewürze in der Soße waren, einen besonderen Wein zu verkosten, oder Düfte zu unterscheiden.

Freilich erzählt das Gedicht nicht einfach nur von den Gerüchen der Altstadt Algheros. Vielmehr zählt es zu jenen Gedichten, in denen Hemmerle die Entstehungsbedingung seiner Gedichte reflektiert.

„Du mußt ...“, hebt das Gedicht an – und hebt die Antwort auf eine Frage an, die vorausgesetzt, aber selber gar nicht genannt wird: nämlich Hemmerles Antwort auf die Frage: Wie geht das, Alghero und seine Altstadt wirklich wahrzunehmen?

Du mußt die Augen schließen
und die Sinne öffnen
und durch die Altstadt gehen.

Paradox, aber wahr: Erst wenn ich die Augen schließe, kann ich die Sinne öffnen.

Erst wenn ich meinen Blick, der bereits aus der Ferne erfasst, und der gleichsam sofort das Panorama sieht – erst wenn ich meine Ansichten einklammere und meinen herrscherlichen Blick auf die Dinge, die Menschen, die Welt außer Kraft setze, kann mir wirklich etwas auf-fallen,

sodass ich auf-merke,
sodass ich Neues und Fremdes wahrnehme,
sodass ich mir die Welt sinnlich geben lasse.

Doch wie soll das gehen?

Wie sollte ich jemals absehen können von meiner Perspektive? Wie sollte ich mich frei, wirklich frei machen können von dem eingerasteten und genormten Blick? – Es geht nicht auf einmal oder im Nu. Es geht nur im Gehen. „Du mußt ... durch die Altstadt gehen.“

Das ist in der Tat das Geheimnis der Wahrnehmung: Wahrnehmung braucht Bewegung.

Die Wahrnehmung ist gebunden an das Gehen, an ein Hin-Gehen, ein Nach-Gehen und ein Mit-Gehen.

Du mußt die Augen schließen
und die Sinne öffnen
und ... gehen.1


  1. Vgl. zu den Textteilen 2 und 4: Feiter, Reinhard: Lerne am Herd die Würde des Gastes. Materialien und Überlegungen zum Italienbild Klaus Hemmerles (1929–1994), in: Geschichtsverein für das Bistum Aachen (Hg.): Vom Rhein zum Tiber. Das Italienbild historischer Persönlichkeiten aus dem Bistumsgebiet (Geschichte im Bistum Aachen, Beihefte 5), Neustadt/Aisch 2007, 121–150, sowie Feiter, Reinhard: Gedichte sind Spuren. Ein Beitrag zur Ausstellung „Bilder sind Wege“ zum Gedenken an Bischof Klaus Hemmerle, Clara-Fey-Gymnasium, Schleiden, 9. September 1999, in: Katholisches Bildungswerk der Region Eifel (Hg.): „Bilder sind Wege“. Eine Dokumentation, Schleiden 2000, 34–61. ↩︎