Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Anlaß und Horizont der Frage
Im Spätwerk Schellings geht es um Gott, und zwar gerade nicht um einen bloß philosophischen Gott, sondern um den Gott lebendiger Religion, um den Gott der christlichen Offenbarung.
Die ausdrückliche Mühe, die sich Schelling nimmt, um Gott nicht nur als den Gott des Begriff es zu denken, sondern als den Gott, der sich frei zu seinem Anderen entschließen und verhalten, der geschichtlich handeln kann, bestätigt dies1. Es ist der offenkundige Sinn der Ausbildung „positiver Philosophie“, welche Schellings Spätphilosophie als solche von den langen Phasen ihrer Vorbereitung abhebt, über den bloß gedachten Gott und über den bloß sich selbst denkenden Gott der νόησις νοήσεως hinauszukommen2.
Es geht in Schellings Spätphilosophie um den göttlichen Gott, aber es geht um ihn auf philosophische Weise. Dies trifft in so strengem Sinne zu, daß man mit demselben Recht der Aussage, es gehe hier um Gott, die andere hinzufügen kann: Es geht hier ums Denken.
Das Denken befragt sich und übersteigt sich in Schellings Spätphilosophie zu seinem schlechthin Anderen, zum unerdenklichen, dem Denken absolut vorgängigen „Sein“ hin, und dieses schlechthin Andere ist ihr erst Gott, indem das Denken dieses Andere wieder zu sich und sich zu diesem Anderen hin einholt. „Gott ist nicht, wie [12] viele sich vorstellen, das Transzendente, er ist das immanent (d. h. das zum Inhalt der Vernunft) gemachte Transzendente.“3
Dieser Satz ist indessen keineswegs als Widerruf, sondern als „Vollzug“ des Unternehmens gemeint, Gott in seiner souverän und unableitbar aus sich selbst aufbrechenden Freiheit und Anfangsmacht zu denken. Der „neue“ Begriff Gottes, welcher der Vernunft in der Rückkehr von ihrer undenklichen Voraussetzung zu sich selbst, der ihr also im Denken von dem her entsteht, was über dem Denken draußen liegt, blickt auf den Gott , der von sich her seinen Namen offenbart: „Ich werde sein, der ich sein werde.“4
Dieser Gott soll also dem Denken aufgehen, nicht durch Aufhebung der Offenbarung, nicht durch ihre Auflösung in selbstvermochte Gedankengänge der Vernunft, sondern aus seiner Tat und Freiheit her – und doch ist der Weg, der das Denken vor diesen Gott bringt, eben der Weg des Denkens selbst, auf dem es sich zu vollenden und zu begründen versucht, auf dem es als es selbst also erst zu sich selbst kommt .
Erst indem das Denken sich dazu umkehrt, aus sich diesen neuen Begriff Gottes zu entbergen, versteht und vermag es sich selbst, findet es den Begriff seiner selbst.
So muß beides zusammengesehen werden: Es geht Schellings letzter Philosophie um den göttlichen Gott, und: es geht ihr um das sich erdenkende, sich zu Ende und so in seinen Anfang hinein denkende Denken. Es geht ihr dabei ums selbe, doch sind ihr Gott und das Denken gerade nicht nur dasselbe . Es geht ihr so um Gott, daß dabei weder sein Aufgang aus sich noch ihre Treue zu sich, ihr Bleiben bei der Sache und dem Weg des Denkens geschmälert werden sollen; und es geht ihr so ums Denken, daß dieses zugleich seine eigene Ursprünglichkeit und Universalität wahren und bewähren und doch die Göttlichkeit und Unerdenklichkeit Gottes bezeugen und lichten soll.
Schelling will damit mehr leisten als die „klassischen“ Gottesbeweise: er sucht nicht nur einen Zugang der Vernunft zu einer ersten Ursache und einem absoluten Sein, sondern nimmt die [13] „phänomenologische Differenz“ in acht, die zwischen dem Gott philosophischer Beweisbarkeit und Begreifbarkeit und dem „lebendigen“ Gott der Religion waltet – auf diesen lebendigen Gott denkt er zu. Er tut es jedoch gerade mit den Mitteln und aus dem Ansatz eines Denkens, das alles auf sich selbst, auf seine alleinige und umgreifende Ursprünglichkeit reduziert, alles aus ihr ableitet und sich selbst als die Konstitution seiner selbst versteht – der Gedanke auch noch des späten Schelling ist seiner Herkunft aus dem deutschen Idealismus nicht nur beiläufig, sondern wesentlich und bewußt verpflichtet, sein letztes großes Zeugnis, die „Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie“5 tut dies zumal eindrücklich dar.
Diese „Spannung“ der Spätphilosophie Schellings ist das Erregende an ihr. Ihre Zeugnisse lassen sich so lesen, daß sie wegweisen von dem, was die große Philosophie des deutschen Idealismus beschäftigte und prägte, zu der Schelling in seinen früheren Epochen doch Entscheidendes beitrug; eine andere Grundstimmung bricht in ihnen durch, das Wissen um die Endlichkeit des Denkens, um die Differenz wirklicher Wirklichkeit, ums Unableitbare des Geschichtlichen und der freien Tat, um den „anderen“ , geheimnisvollen, handelnden Gott. Anderseits läßt sich aber doch auch alles in der Spätphilosophie Gedachte zurücktragen in den Ansatz, den sie zu verlassen scheint , wächst dieses scheinbare „Verlassen“ als seine vollendende Konsequenz aus ihm selbst heraus: letzte Rückfrage des alles erdenkenden Denkens hinter sich zurück, um so, aus dem Anderen seiner selbst her, sich selbst und alles aufs neue und nur um so radikaler begreifend in sich zu umfassen und sicherzustellen. Der erst im knappen Umriß und noch unausgewiesen vorgestellte Befund der Schellingschen Spätphilophie drängt einem Mitdenken, das ihn klären will, von sich her zwei Fragen auf:
Wie kommen die aus dem bloßen Gedanken gerade nicht ableitbaren und die Geschlossenheit begrifflicher Konstruktion sprengenden Züge eines geschichtlich handelnden, göttlichen Gottes in dieses aus innerlich anderer Herkunft gewachsene Denken hinein, und zwar derart, daß sie ihm nicht als nur vorläufige, durch den „Be- [14] griff“ zu überholende „Vorstellung“ gelten – Schelling behauptet gerade in diesem Punkt seine Gegenstellung gegen Hegel?6
Welches ist die Weise, wie dieses Denken sein Anliegen bewältigt, den göttlichen Gott, den Gott der Offenbarung zu denken – ist sie ihm gemäß, worin und inwiefern ist sie es und ist sie es nicht? Es wird so deutlich, daß Schellings Spätphilosophie nicht nur um ihrer eigenen Interpretation willen daraufhin durchgeklärt werden muß, was sie zum Thema „Gott und das Denken“ sage. Vielmehr ist die Frage nach Gott und dem Denken in Schellings Spätphilosophie von unmittelbarem Interesse für eine gegenwärtige Religionsphilosophie um ihrer selbst willen. Des näheren sprechen hierfür drei Gründe:
Gegenwärtige Religionsphilosophie hat wie alle Religionsphilosophie, gleichviel in welcher Epoche sie betrieben wird, die grundsätzliche Frage zu stellen, ob es einen Zugang vom Denken als einem solchen, mit seinen eigenen Mitteln und in seinem eigenen Horizont, zur Wirklichkeit und zum Begriff Gottes gebe. Schon deswegen kann sie heute an Schellings Spätwerk kaum vorbeigehen. Denn hier wird die grundlegende Kritik Kants an den Gottesbeweisen und sein Begriff von Gott als dem transzendentalen Ideal der Vernunft aufgenommen und in aller kritischen Distanz zu seinem Ansatz in wichtigem doch auch über-nommen. Trotzdem gelangt Schellings Gedanke, wie er sich versteht, zu einem streng philosophischen Zugang zur Existenz Gottes und letztendlich zu einem Begriff, der, über das transzendentale Vernunftideal hinausführend, eben Gott als handelnden „Anfang“, Gott als den „göttlichen“ Gott, im Blick hat7.
So aller Religionsphilosophie entscheidend verbunden, hat die gegenwärtige doch einen eigenen und neuen Fragebereich zu bewältigen. Die am Ende einer jeden der quinque viae des Thomas von Aquin vollzogene und genannte Gleichung des Ermittelten mit dem, was Gott heißen darf8, ist dem Bewußtsein unserer Zeit nicht mehr in gleichem Maße wie Thomas selbstverständlich. Die schon namhaft [15] gemachte qualitative Differenz zwischen dem Gott philosophischer Herleitung oder Konstruktion und dem göttlichen Gott beschäftigt sowohl das neu an den Quellen der Offenbarung orientierte Denken wie auch wichtige Gestalten zeitgenössischer Philosophie9.
Steht nun dieser göttliche Gott ohne Verbindung und Zugang neben dem Denken, ist der Bereich, in welchem gedacht und philosophiert wird, legitim und notwendig „gottlos“?10 Ist Religionsphilosophie überhaupt ein in jedem möglichen Ansatz verfehltes Unterfangen? Oder ist umgekehrt das Denken selbst und um seiner selbst willen in neue und andere Dimensionen und Möglichkeiten gewiesen, in denen es Gott als göttlich, als den zu denken vermöchte, der nicht Ergebnis des Denkens, nicht das vom Denken Vermochte und doch auch dem Denken Gott ist? Gibt es Religionsphilosophie, die sich weder am Glauben insgeheim vorbeistiehlt noch sich, von sich selbst unbemerkt, in „bloßen“ Glauben auflöst? Die Bemühung Schellings um den freien, handelnden, erschaffenden und offenbarenden Gott, die mit seiner Bemühung ums Denken selbst zusammenfällt, bietet sich angesichts der berührten Problematik gegenwärtiger Religionsphilosophie ihrem Mitdenken an.
Schelling geht, wie gesagt, von dem Denken her, das sich im deutschen Idealismus als eine abschließende und radikale Vollendung abendländischer Metaphysik ausgebildet hat, auf den göttlichen, geschichtlich handelnden Gott zu. Die Frage, ob die Weise dieses Zugehens dem gemäß sei, worauf sie zugeht, bewegt eine gegenwärtige Religionsphilosophie noch aus einem weiteren Grund: Die Philosophie ist in Hinsicht auf den Glauben und die Theologie nicht nur daraufhin gefragt, ob sie Alternative zum Glauben oder mögliche Bereitung auf ihn zu sei. Wenn der Glaube Glaube des Menschen ist, verfaßt er sich und legt er sich aus im menschlichen Seinsverständnis. Dann aber hat die Philosophie immer und je neu [16] eine Aufgabe auch im Glauben, in seinem Selbstverständnis als Theologie11.
Heute wird ihr Dienst an der Theologie nicht zuletzt versuchen, dieser die Denkmöglichkeiten für jene Aussagen der Offenbarung bereitzustellen, die bislang in der systematischen Ausbildung der Theologie am Rande standen. Diese mühte sich einläßlicher um die „statischen“ Elemente der Offenbarung, um die Rückbindung der Geschehensaussagen der Offenbarung in metaphysisch artikulierte Wesensaussagen. Das Andrängen der andersartigen unmittelbar biblischen Kategorien und Verständnisweisen kann indessen nicht nur historisch bewältigt werden. Eröffnet nun die letzte große Gestalt abendländisch-metaphysischer Denktradition, der deutsche Idealismus, in seiner selbst wiederum letzten großen Gestalt, in der Spätphilosophie Schellings, hierfür neue Denkmöglichkeiten, oder versagen die von ihr vorgeschlagenen, inwiefern und warum versagen sie, und wohin weist allenfalls solches Versagen? Der Horizont gegenwärtiger religionsphilosophischer Problematik erlaubt so auch der Frage nach Gott und dem Denken in Schellings Spätphilosophie, sich als eine „gegenwärtige“ zu verstehen.
-
Vgl. z. B. XIII 125, 172, 269/70, XI 559. ↩︎
-
Siehe XIII 106, XIV 350/51, XI 559 Anm. ↩︎
-
XIII 170. ↩︎
-
Ex 3, 14; XIII 270, 269, XI 171. ↩︎
-
XI 255–590. ↩︎
-
Vgl. z.B. XIII 172/73. ↩︎
-
Zu Kant und der Differenz von ihm bes. XIII 44/46, 163–170, XI 282/294. ↩︎
-
S. th. I 2, 3. ↩︎
-
Vgl. hierzu etwa: K. Rahner, Theos im Neuen Testament, in: Schriften zur Theologie I (Einsiedeln 1954) 91–167; M. Heidegger, Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik, in: Identität und Differenz (Pfullingen 1957), bes. 70/71. ↩︎
-
H. Gollwitzer-W. Weischedel, Denken und Glauben (Stuttgart 1965); B. Welte, Heilsverständnis (Freiburg 1966) 58–62, 22–24. ↩︎
-
Vgl. B. Welte, Die Philosophie in der Theologie, in: Auf der Spur des Ewigen (Freiburg 1965) 366–379; ders., Heilsverständnis 47–51. ↩︎