Glauben – wie geht das?

Anlässe neutestamentlichen Sprechens vom Geist

Wir können zumindest fünf Anlässe hervorheben, die unmittelbar im Neuen Testament zur ausdrücklichen Rede vom Geist drängen.

Zunächst ist es die Neuheit des Denkens und Lebens, die der Christ in seinem Christsein erfährt. Er unterscheidet sich in seinen Reaktionsweisen nicht nur von den anderen, sondern auch von sich [138] selbst, von seinem Denken und Leben zuvor. Man kann abgekürzt sagen: Jener neue Anfang, den die Herrschaft Gottes schenkt und fordert, gibt sich uns im Heiligen Geist zu erfahren, Heiliger Geist wäre in diesem Sinn die Wirksamkeit der Gottesherrschaft in uns, das heißt aber die Wirksamkeit Gottes in uns. Wenn Gott aufbricht vom bloßen Horizont ins Zentrum nicht nur des Lebens, sondern auch unseres eigenen Herzens, wenn Gott sich uns mitteilt, dann waltet hier eben Heiliger Geist. Gott als Ursprung unserer eigenen neuen Ursprünglichkeit, Gottes Ursprungsraum als unser Lebensraum in der Gemeinde – dies ist das Feld, in dem Heiliger Geist zur Sprache kommt (vgl. z. B. Röm 5,5; besonders Kap. 8 insgesamt; 14,17; Gal 5,5–25).

Ein zweiter Anlaß ist die Notwendigkeit, die Geister zu scheiden. Das Zeugnis von Jesus dem Christus ist nicht das einzige und es ist nicht in allen seinen Gestalten ursprünglich und echt. Im Umfeld von Gemeinde meldet sich vielerlei an Ansprüchen, Erleuchtungen, Heilslehren. Die Unterscheidung der Botschaft gegenüber anderen, ähnlich klingenden Botschaften oder gegenüber Entstellungen der Botschaft im Innern der Gemeinde braucht Kriterien des Geistes Gottes (vgl. besonders 1 Joh 4,1–6; auch 1 Tess 5,19–21; Gal 3,1–5; 1 Kor 12,3; 2 Kor 11,4).

Aber auch – dritter Anlaß – die echten Wirkungen und Gaben des Geistes können Anlaß zu einer Verkehrung werden. Man kann sie höher schätzen als den Geist selbst, der sie gibt, sich in sie verlieben, statt ihn zu lieben und aus seiner Liebe zu handeln. Charismatische Unordnung, charismatische Eigenbrödelei, das fordert die klare Entscheidung heraus, was wahrhaft des Geistes ist. Die Kapitel 12–14 des 1. Korintherbriefs gelten diesem Thema. Nicht die Wirkungen des Geistes sind der Maßstab für das Leben im Geist, sondern die Früchte des Geistes (vgl. auch nochmals Gal 5,13 bis 25).

Ein vierter Anlaß ist die Erfahrung des vollmächtigen, von Gott erfüllten Sprechens und Handelns Jesu. Immer wieder wird Jesu Auftreten in den drei ersten Evangelien und der Apostelgeschichte aus seinem Erfülltsein vom Heiligen Geist her interpretiert. Den be- [139] sonderen Stellenwert dieser Deutung des Wirkens Jesu bei Lukas haben wir bereits berührt. Aber auch in den anderen Evangelien (vgl. z. B. Mt 3,11; Mk 1,8; Mk 1,10; Mt 4,1; Mk 1,12; Mt 10,20; Mk 13,11; Mt 12,18.28.31f.; Mk 3,29) nimmt bei der Darstellung des Lebens und Wirkens Jesu die Rede vom Heiligen Geist eine bedeutsame Position ein. Wir können hier nicht in die Untersuchung eintreten, inwieweit hier ursprüngliches Traditionsgut vorliegt und inwieweit die theologische Deutung durch die Evangelisten „ältere“ Worte reicher befrachtet. Jesus spricht aus dem Geist – Gottes Ursprünglichkeit waltet in ihm auf eine besondere Weise: dies ist Grundaussage der Evangelien. Johannes macht in seinem Evangelium eine Aussage, die nicht nur sein Verständnis Jesu, sondern – wir dürfen dies vom Ganzen, vom Ende her sagen – auch das der ersten drei Evangelien zusammenfaßt: „Der, den Gott gesandt hat, redet die Worte Gottes; denn unbegrenzt gibt er den Geist. Der Vater liebt den Sohn und hat alles in seine Hand gegeben“ (Joh 3,34f.). Die Zuverlässigkeit der Zeugenschaft Jesu für den Vater, der unbedingte Rang seiner Botschaft, die Gottes neue Zeit, Gottes Herrschaft ansagt, ist darin begründet: die Geistmitteilung des Vaters an Jesus ist nicht mehr nur eine begrenzte, wie bei den Propheten, für diese oder jene Botschaft, für diesen oder jenen Auftrag, sondern Gottes Geist in seiner ganzen, göttlichen Fülle wirkt in Jesus, und so vollzieht er den letzten, totalen, universalen Auftrag Gottes, die Ansage seiner Herrschaft, den Anbruch seines Heils. Sowohl die Empfängnis Jesu vom Heiligen Geist (vgl. Lk 1, 35; Mt 1,18.20) als auch die Herabkunft des Geistes auf Jesus bei der Taufe im Jordan (vgl. Mk 1,10; Mt 3,16; Lk 3,22; Joh 1,32f.) und die thematische Verknüpfung zwischen Jesu Wirken und dem Wirken des Geistes im Lukasevangelium laufen auf diese Deutung zu: Gottes Geist ist in Jesus nicht nur wie in einem Propheten, sondern in schlechthin erfüllender, überbietender und unüberbietbarer Weise da.

Ein letzter Anlaß dazu, daß im Neuen Testament vom Heiligen Geist die Rede ist, steht im Hintergrund der beiden im Neuen Testament ausgeführten heilsgeschichtlichen Geisttheologien bei Lu- [140] kas und Johannes. Bereits Gesagtes erlaubt die Beschränkung auf einen Hinweis. Jesus geht fort, aber er ist auf neue Weise da. Und nicht nur er ist da, sondern auch seine Sendung geht weiter. Dasselbe, woraus er lebte, bewegt die Jünger, dieselbe Sendung, die ihn trieb, treibt auch sie, dieselbe Kraft und derselbe Ursprung, aus denen er schöpfte, stehen ihnen, stehen uns, der Kirche zur Verfügung. Die neue, andere Gegenwart Jesu und die Entsprechung zwischen seiner Sendung und seinem Sein einerseits und unserem, der Zeugen, der Kirche Sein und Sendung andererseits lassen nach dem Dritten, Verbindenden fragen. Und hier heißt eben die Auskunft bei Lukas und Johannes: Der Geist, der in Jesus wirkte, ist die Quelle der Verbindung mit Jesus, seiner Nähe (dies besonders bei Johannes) und seiner Sendung (bei Lukas wie bei Johannes). Dies ist die Bedeutung des Pfingstereignisses (vgl. Apg 2,1–13) bzw. der österlichen Geistsendung (vgl. Joh 20,19–23).

Fassen wir zusammen: Wir stehen in einem neuen Leben, in einem Leben aus Gottes Ursprungsmacht – das ist christlicher Glaube und christlicher Vollzug. Wir haben das, was wir als Wirklichkeit und Anspruch von Jesus her glauben und erfahren, zu unterscheiden von anderen Ansprüchen und Deutungen. Wir dürfen uns nicht an die Gaben und Wirkmöglichkeiten verlieren und hängen, die uns aus der Verbindung mit Jesus Christus geschenkt sind, und dürfen uns vor allem nicht aus der inneren Einheit in seinem Namen heraussprengen lassen durch die Fixierung auf je unseren Weg. Dies sind die praktischen Anlässe, aus denen bei der Ermahnung der Gemeinde in den Apostelbriefen jenes Worin und Woraus zur Sprache kommt, das unsere gläubige Existenz prägt. Dieses unser Worin und Woraus haben wir von Jesus empfangen, er, der erhöhte Herr, hat uns seinen Geist gesandt, damit wir seine, des Sohnes Sendung, weitertragen in die Welt. Der Geist macht uns zum lebendigen Christus für diese Welt. Wie er in der Kraft dieses Geistes aus dem Vater gelebt und gewirkt hat, so lebt und wirkt er weiter in der Kirche durch seinen Geist, den er uns verliehen hat. In ihm wohnt der Geist ohne Grenze und Maß – wir haben diesen Geist ohne Grenze und Maß nicht in der Gabe, wie wir sie in uns haben, sondern durch die [141] Verbindung, die diese Gabe uns mit ihm, dem Herrn der Kirche, vermittelt.

Wir verstehen nun auch, weshalb im Johannesevangelium Jesus sagt, es sei gut, daß er von uns geht, weil sonst der Geist nicht kommen könne (vgl. Joh 16,7). Oder, wie ein anderes Schriftwort denselben Sachverhalt ausdrückt: Es gab noch nicht den Geist, weil Jesus noch nicht verherrlicht war (vgl. Joh 7,39). Seine Stelle in der Geschichte einnehmen – das hat zur Voraussetzung, daß seine Stelle in der Geschichte „frei“ ist, daß er selbst diese Stelle nicht durch sich, sondern durch uns einnehmen will. Darin wird der tiefste Sinn des Heimgangs Jesu zum Vater sichtbar. Seine Liebe, die uns alles mitteilt, will uns auch mitteilen, daß wir „er“ sind für die Welt. Wir können aber nur er sein, wenn wir ihm bedingungslos in uns Raum lassen, wenn wir uns dem Geist öffnen. Tun wir es, dann erfahren wir in unserer Existenz jenes wiederum johanneische Paradox: Getrennt von Jesus können wir nichts tun (vgl. Joh 15,5) – wer an ihn glaubt, aus dem werden selbst Ströme lebendigen Wassers hervorbrechen, er wird zur Quelle (vgl. Joh 7,38), wir werden aus seinem Geist dieselben Werke wie er vollbringen und noch größere als er (vgl. Joh 14,12). Das größere Werk: Jesu Hineinwachsen durch unsere Liebe in die Welt, das Wachstum seines Leibes.