Bonaventura und der Ansatz theologischen Denkens

Ansatz bei der Kirche

Die Vermittlung des Ausgangs von Gott und vom Menschen, die Gleichzeitigkeit zwischen beiden, lautet für Bonaventura – dies ist die eine Dimension der anstehenden Antwort – Kirche. Das ist für die Theologie von hohem Belang; denn die scheinbar von der Frage des Ansatzes nicht unmittelbar betroffene andere Frage, wie Theologie Wissenschaft sein und zugleich in einer kirchlichen Bindung stehen könne, rückt so in eine neue Perspektive: Kirche wird zum inkarnierten Zusammenhang des doppelten Ansatzes von Theologie.

Bonaventura kommt im Hexaemeron auf provokative, man kann sagen, für heutige Ohren anstößige Weise auf die Kirchlichkeit der Theologie zu sprechen. Auf die Frage „quibus debet loqui?“ antwortet er „quia Ecclesiae; non enim dandum est sanctum canibus“1. Die „Struktur Kirche“, so darf im Vorausblick formuliert werden, ist als solche die Verstehensbedingung für das Wort Gottes als Wort Gottes, für die Weise also, wie Gott von sich aus- und auf den Menschen zugeht. Dies wird von Bonaventura aber nicht in einer triumphalistischen Selbstsicherheit konstatiert, sondern steht als kritischer Imperativ denen gegenüber, die ihr Kirchesein in einen lebendigen Vollzug zu verwandeln haben, damit ihnen das Wort Gottes lebendig, wirksam und wirklich begegnen könne. Die Ausführungen über Kirche als Raum des Wortes Gottes und somit auch der Theologie stehen unter dem Vorzeichen, das uns bereits als Appell an den Menschen aufgefallen war: sed primo loquendum est de nobis ipsis et videndum, quales esse debemus.2: Kirche wird entsprechend – in einem der dichtesten und eindrucksvollsten Texte im Werk Bonaventuras – durch drei Momente markiert, die ihrerseits wiederum je dieselben drei Momente, zugleich aber auch sich selbst im je anderen Moment gegenseitig enthalten. Die Momente lauten: lex, pax, laus.3 Die Momente, die in jedem dieser drei Momente enthalten sind, lauten: Wort Gottes, Antwort des Menschen, Gemeinschaft. Diese letzten drei Momente werden nicht als solche abstrakt von Bonaventura herausgestellt, aber in der Explikation von lex, pax und laus erhalten sie durchgängig ihr Profil. Die Verbindung von lex, pax und laus und die Weise, wie in ihnen jeweils anders Wort Gottes, Antwort des Menschen und Gemeinschaft miteinander zusammenhängen, beschreiben einen Weg, so daß die Betrachtung von Kirche eine insgesamt dynamische, also die Betrachtung eines Geschehens wird.

[95] Zeichnen wir in wenigen Strichen das Geschehen, die sich ereignende Struktur von Kirche nach, wie sie in der Collatio I, 2–5 entwickelt und sodann – darauf kann nicht mehr eingegangen werden – in I, 6–8 vom Außerhalb abgegrenzt und schließlich in I, 9 auf die Eingangsfrage zurückgebogen wird: quibus debet loqui?

Ursprung der Kirche ist das Wort Gottes als lex, will sagen als Maß-gabe. Das Wort Gottes geht voraus, es ist Ausdruck des Anfangs, den Gott setzt und der das Ganze bestimmt. Dieses Wort aber bringt ein Geschehen in Gang, das Geschehen von Antwort, in dem es sich als lex bewährt. Das in Gang gebrachte Geschehen wiederum ist ein Ganzes; das Wort Gottes richtet sich nicht nur an ein einzelnes Subjekt, sondern an eine Totalität, es ist maßgebend für den einzelnen, der in einem Umgreifenden innesteht, maßgebend für ein Miteinander. Nur so ist es lex, nur so konstituiert es Kirche. Bonaventura macht dies besonders anschaulich, indem er – exegetisch genial „falsch“ – das Wort von der Kirche, die in 1 Tim 3,15 als columna veritatis erscheint, auf die Wolkensäule bezieht, die mit dem Volk Israel durch die Wüste wandert. Das Wort Gottes stiftet Weg und Einheit, indem gemeinsam auf es geachtet, indem je neu, aber je miteinander ihm gefolgt wird.

Wenn solches Miteinander in der Antwort auf das Wort Gottes sich ereignet, dann steht dieses Wort aber nicht mehr nur vor der Antwort und vor dem Miteinander, sondern es lebt im Miteinander als die Konsonanz der Antwort mit dem Wort und als die Konsonanz der Antwortenden unter sich. Es heißt nunmehr pax, ein Wort, das für Bonaventura von besonderer Bedeutung ist im Blick auf Franziskus von Assisi4 und das den Gegensatz zu jener Entfremdung darstellt, in welcher der Mensch sich selbst und denen um ihn herum nicht „gegeben“ ist. Die pax ist das Innesein des Wortes Gottes in der Antwort des Menschen als das Prinzip seiner Transzendenz zu den anderen hin, als jenes, was den einzelnen mit sich und mit dem Ganzen in Einklang bringt, indem er antwortend das den Einklang bedingende Prinzip selber zum Klingen bringt. Kirche wird zur inkarnierten pax, oder wie Bonaventura im Blick auf die ekklesial-konstitutive Funktion des neuen Gebotes ausführt: „ecclesia enim mutuo se diligens est“5.

Im Grunde ist freilich im Gesagten bereits der Überschritt in die nächste Dimension, der Überschritt zum abschließenden Moment der laus enthalten. Indem nämlich die gemeinsame Antwort das vorgängige Wort in sich trägt, bringt sie es zum Klingen, macht sie es zum nachträglichen, zum letzten Wort, zeugt sie aus sich selbst das Wort, das sie zeugt und in ihre Identität bringt. Das Wort Gottes ist so gerade nicht nur zugemessen auf ein Bedürfnis, funktional verrechenbar für den Menschen und die Gesellschaft, sondern es übersteigt Mensch und Gesellschaft, aber nicht um sie als uninteressant zurückzulassen, sondern um sie in ihren eigenen Überstieg zu führen. Kirche ist aus der pax, die sie ist, da zur laus, und erst in dieser Verherrlichung des Anfangs wird dieser und wird sie zu sich selber eingeholt.

[96] In den drei Stufen der Symbiose von ursprünglichem Wort Gottes, einspringender Antwort des Menschen und überspringender Kraft von Wort und Antwort in der durch beide zugleich gestifteten communio von Kirche ist, sozusagen dem Umkreis, der Peripherie nach, die Struktur des theologischen Ansatzes von Bonaventura umrissen. Kirchlichkeit wird nicht als Zusatz, sondern als Bewährung der Gleichzeitigkeit des Ausgangs von oben und unten sichtbar.

Der Frage nach dem Umkreis folgt, abschließend, die Frage nach der Mitte, nach dem einen principium der Struktur; dies ist die andere Dimension, in der Bonaventura den Ansatz von oben und den Ansatz von unten als miteinander vermittelt, ja als unlöslich miteinander verbunden sieht.


  1. Hexaemeron, I, 1 (V, 329). ↩︎

  2. Hexaemeron, I, 2 (V, 329). ↩︎

  3. Hexaemeron, I, 2 (V, 329). ↩︎

  4. Itinerarium, Prologus, 1 und 2 (V, 295). ↩︎

  5. Hexaemeron, I, 4 (V, 330). ↩︎