Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Ansatz beim Seienden
Das Verständnis der drei Ebenen des Denkens in Schellings Spätphilosophie gehört zu den wichtigsten Aufgaben in ihrer Interpretation.Nach der – richtigen – Deutung von Walter Schulz beginnt die Spätphilosophie Schellings als solche dort, wo er den Unterschied zwischen negativer und positiver Philosophie ausdrücklich aufstellt1. Die langen Jahre seiner literarischen Zurückhaltung von der „Freiheitsphilosophie“ an gelten großenteils dem Ringen um die Ausdifferenzierung der positiven gegen die negative Philosophie, wie die Weltalterentwürfe und die Erlanger Vorträge der Sache nach und die Vorlesungen der zweiten Münchner Zeit endgültig dar tun. Negative und positive Philosophie sind aber die zweite und dritte der drei Ebenen des Denkens ins einer Spätphilosophie. Die erste, das „reine Denken“, tritt von der 13. bis zur 16. Vorlesung der Philosophie der Mythologie2 in ihrem eigenen Rang deutlich hervor, während sie in der Einleitung zur Philosophie der3 Offenbarung nur einschlußweise mitbehandelt, nicht aber als besondere der negativen Philosophie gegenüber namhaft gemacht wird; sie findet in den Interpretationen der Spätphilosophie daher zumeist wenig Beachtung4.
Wir suchen also Schellings Zugang zu den drei Ebenen des Denkens in seiner Spätphilosophie. Die Momente des Denkens, die es unmittelbar an ihm selbst auf [82] seine mediale Ursprünglichkeit verweisen, geleiten es, wie gesehen, zugleich in die Vielfalt seiner Dimensionen, in denen es Denken, so aber gerade nicht mehr einsinnig das Denken ist. Wie der Vorgang zu unserer letzten Überlegung, die Entwicklung der medialen Ursprünglichkeit des Denkens aus den Texten des späten Schelling, ergab, finden sich dort dieselben Momente. Sie erschöpfen in ihrer unmittelbar am Vollzug des Denkens orientierten Gestalt aber nicht das von Schelling Gedachte und werden umgekehrt durch das von Schelling Gedachte in ihrer Richtungsbreite begrenzt und verändert. So steht die mediale Ursprünglichkeit bei Schelling, wie schon im letzten Kapitel umrissen wurde, zum Gang unseres Mitdenkens in einer „gespannten“ Entsprechung. Eine analog gespannte Entsprechung ist auch zwischen dem Ergebnis der Vororientierung unseres Mitdenkens an der Vielfalt des Sinnes von Denken und den drei Ebenen der Spätphilosophie bei Schelling zu vermuten.
Um den Unterschied zwischen Schellings Ansatz und der Vororientierung unseres Mitdenkes in seine Wurzel zu verfolgen, fragen wir nochmals dem Verständnis der „Ursprünglichkeit“ des Denkens nach. Wenn, wie gesehen, das Denken all sein Gedachtes aus sich entläßt und sich selbst also in allem seinem Gedachten vollbringt, so hat es auch für uns einen Sinn, von dem Denken als von einem durchgängig Einen zu reden: Alles Denken ist Denken kraft eines selben, das in ihm waltet und es von allem, was nicht Denken ist unterscheidet. Dieses „selbe“ ist eben der Bezug zu dem, was ist, zum „Sein“, der – auf noch so unabsehbar vielfältige Weise – die Verstehbarkeit alles Denkens füreinander, die Übersetzbarkeit alles Denkens auf einander zu gewährt.
Diese Einheit „des“ Denkens gründet sich aber auf verschiedene Weise in seinem Bezug zum Sein, je nachdem, ob es auf sich selbst reflektierend, sich wesentlich vom Setzen des Seins oder vom Fragen nach dem Sein her versteht.
Gewiß ist er, für Schelling und für uns, beides: Nach dem Sein fragen heißt schon es „setzen“, wenn auch „hypothetisch“5, und gerade Schelling ist es ja, dem das Fraglichbleiben des bloß vom Denken gesetzten Seins auffällt. Das fraglich-fragende Setzen des [83] Seins durchs Denken kann nun aber in verschiedener Grundrichtung geschehen.
Entweder das Denken versteht sich, sein Fragen und Setzen bereits als Antwort, es kommt vom Hinblick auf das, was sich ihm und darin ihm sich und alles gewährt, auf sich selbst nur zurück: sein Setzen des Seins ist nur sich verantwortendes, sich durchsichtig in seine Gewähr gründendes Vernehmen, das Setzen geschieht primär im Zuge des Fragens. Dann sind die „Strukturen“ des Denkens, dann ist seine fragende Voraus-setzung des Horizontes der Antwort, in welchen es „das Denken“ ist, nur die Verwiesenheit alles Denkens (wenn es grammatisch erlaubt wäre: aller Denken) in die gemeinsame Verantwortung – und also aneinander. Dasselbe, was das Denken also zum durchgängig Einen macht, derselbe Anruf und die gemeinsame Verantwortung ihm gegenüber und zugleich gegenseitig allem Denken gegenüber, macht es auch zum unaufhebbar Vielen, zu je diesem Denken, wobei dieses Eine alsdann in allem Denken bezeugt und doch keinem Denken verfüglich, nie in eine fertige Gestalt hinein ablösbar wird.
Oder das Denken versteht sich als seine eigene Selbstentfaltung, die ihres Entfalteten zwar nicht aus sich selbst sicher ist, es also und sich also durch die unbedingte Voraussetzung sichern muß. Hier aber ist das Fragen zur Durchführung des im Setzen bezeugten Sich-Wollens geworden, das Fragen ist die sichernde Artikulation des vorgängigen Setzens. Dieses Denken kommt von sich, von seinem Inhalt, somit eben von seiner eigenen Potentialität her.
Der unabsehbare Horizont seiner Möglichkeiten ist der seine, die unzählbaren Strahlen der Frage nach dem, was ist, leuchten nur den eigenen Raum des Denkens aus, ja bringen ihn als lichten aus sich hervor und beschlagnahmen, was darin sein kann, die unendliche Potenz des Seins6, fürs Denken. Alles Denkbare ist hier nicht zunächst alles, wonach gefragt werden kann: so wäre je das zur Frage Rufende von sich her, eigenständig, das bestimmende Zentrum der jeweiligen Frage und des sich in ihr vollbringenden Denkens. Hier hingegen ist das Denken das Zentrum, das sein Gesetztes sich zuordnet, unter sich subsumiert, es zum „Gegenstand“ macht in [84] der Bewegung setzenden Ausstoßes und das Gesetzte erkennender Rückbeziehung. Das viele Denkbare ist zugleich vieles an sich selbst und darin doch nur Bestimmung des einen und einzigen zu Denkenden, des Inhalts seiner selbst, der, um fürs Denken besitzbar zu sein, vom Denken vergegenständlicht werden muß.
Dieser in seine Gegenständlichkeit drängende Inhalt des Denkens ist, in der Sprache der Spätphilosophie Schellings, „das Seiende“ 7. Es gehört zu den wichtigsten, durch Schellings philosophischen Weg vorbereiteten, ihm, aber keineswegs mehr uns selbstverständlichen Grundentscheidungen seines Denkens, daß er „das Seiende“ als Eines, als die Synthese aller Denkbarkeiten in ein einziges Wesen ansetzt und das Denken an sich selbst als das Setzende eben des so interpretierten Seienden versteht. Alles, was aus der Vernunft herkommt, heftet sich sofort als Bestimmung an „das Seiende“ – dieses ist darin die universale Idee zugleich des vielen, das sein kann, und des Einen, das dieses Seiende ist. Schelling spricht davon, daß diese Idee „pantheistisch“ sei, d. h., daß sie Gott und Welt zugleich und zunächst ungeschieden umfange8.
Wir stoßen hier auf den grundlegenden Unterschied unserer Vororientierung zu dem Ansatz, von dem aus Schelling die Ebenen des Denkens entwickelt. Während wir von der Offenheit des Denkens auf eine durchs Wahre nie einzuholende Wahrheit, auf ein durchs Seiende nie zu erfüllendes Sein ausgehen, geht Schelling aus von der aus Kants Vernunftideal herkünftigen Vorstellung – er weiß um diesen Anstoß seines Gedankens9 – der omnitudo realitatis, des Inbegriffs aller Prädikate, die zugleich das viele prädizieren, was sein kann, und darin doch zusammenschießen zur durchgängigen Bestimmung eines einzigen Gegenstandes.
Denken, reines Denken, an sich selbst angeschaut, denkt für Schelling in solchem Sinne „das Seiende“. Die von ihrer konkreten Anwendung auf dies oder jenes abgehobenen reinen Figuren des Denkens bilden als immanente Anfänglichkeit des Denkens bereits die Logik des Seienden heraus.
-
Vgl. Schulz, a. a. O. 113. ↩︎
-
Bes. XI 295–364. ↩︎
-
Bes. 4. und 5. Vorlesung XIII 55–93. ↩︎
-
Vgl. die Ausnahme bei W . Schmied-Kowarzik, Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schellings, ungedr. Diss. (Wien 1963). ↩︎
-
Vgl. XIII 241/42. ↩︎
-
XIII 64. ↩︎
-
S. bes. Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, von XI 288 an im Ganzen. ↩︎
-
Vgl. XI 372/73. ↩︎
-
Vgl. XI 283–287. ↩︎