Neuer Ansatz in Sicht?

Ansatz der Neuzeit beim Subjekt

Am 10. November 1619 hatte der Philosoph René Descartes die großartige Vision einer „wunderbaren Wissenschaft“. Er vermerkt dabei: „Ich weiß nicht einmal, ob es vorher Menschen gegeben hat (denn nichts ist ja gewiß) und kümmere mich wenig um Autorität.“1 Descartes, übrigens ein gläubiger Mann, für den die Wirklichkeit Gottes auch philosophisch eine sichere Sache war, markiert hier einen Aufbruch, der sich schon zuvor anbahnte und in dessen Atem wir bis zur Stunde leben. Die Autoritäten, welche das Mittelalter prägten, waren allenthalben brüchig geworden. Die Reformation als Zukehr zum Ursprung der Bibel allein, der Humanismus und die Kunst der Renaissance, die sich unbefangen vor- und außerchristlichen Kulturen und der Erfahrung der Natur zuwandten, vor allem aber das Entstehen experimenteller Naturwissenschaft, der es nichts verschlug, das überkommene Weltbild auf den Kopf zu stellen: das ist die Welt, in die der Gedanke eines Descartes stößt.

Dieser Gedanke setzt vom Nullpunkt an. Bisherige Sicherheiten werden weggeräumt, alles wird neu konstruiert – und von wo aus? Der Nullpunkt des [26] Anfangs liegt in mir. Ich frage, ich denke, ich schaue über mich hinaus, ich mache meine Experimente, ich gestalte meine Welt. Dieses Ausgehen vom eigenen Ich wird in der beginnenden Neuzeit als Befreiung erfahren. Ich bin nicht nur ein kleines Stück der großen Welt, ich bin nicht nur Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die ich nicht erkennen und beeinflussen kann, ich stehe nicht nur am Rande der riesigen Weltgeschichte. Nein, ich selbst rücke in die Mitte, ich erfahre mich als Ursprung, ich präge allem forschend, denkend, gestaltend den Stempel meines Geistes auf. Ich vermesse die Natur nach meinen Maßstäben, ich nehme sie für meine Zwecke in Anspruch, ordne Experimente an und nutze meine Erkenntnis der Natur – in der Folge – für das gigantische Werk der Technik. Am Ende mache ich die Welt selbst zu meiner Welt, zu meinem Spiegel. Es hängt von meiner Freiheit ab, davon, was ich erlaube, wieviel von der Natur noch sein darf und wie es sein darf. Ich verwandle die Herrschaft der Natur über den Menschen in die Herrschaft des Menschen über die Natur; der Mensch bleibt immer weniger nur Objekt, er wird immer mehr Subjekt, Träger des ganzen Weltgeschehens.

Doch das Ich, das Subjekt, bleibt nicht auf die engen Maße meines individuellen Lebens beschränkt. Auch die Gesellschaft emanzipiert sich, auch das Volk hört auf, Objekt fremder, es beherrschender Autorität zu sein. Das Volk, die Gesellschaft, die Klasse, die Menschheit treten dazu an, sich ihre Gesetze selbst zu geben, ihre Geschichte selbst zu planen. Neuzeit ist Zeit der Emanzipation, der Befreiung; sie ist Zeit der vielen souveränen Staaten, die das eine Reich schrittweise ablösen, sie ist Zeit der Französischen Revolution, in der das Bürgertum das Königtum ablöst, sie ist Zeit des marxistischen Aufbruchs zur klassenlosen [27] Gesellschaft. In noch soviel gegensätzlichen Spielarten kehrt immer dasselbe wieder: Die Gesellschaft erwacht zu sich selbst, sie wird Subjekt, sie macht und trägt ihre Geschichte selbst.


  1. (Anm. d. Bearb.) Vgl. Descartes, René: Oeuvres, ed. Adam, C./Tannery, P., Bd. X, Paris 1897ff., 179, 181, 216. ↩︎