Bonaventura und der Ansatz theologischen Denkens
Ansatz von oben als Ansatz von unten
Wer in die Prologe oder Prooemien hineinschaut, mit denen Bonaventura oftmals seine Werke beginnt, der wird hart neben dem gezeichneten Ansatz von oben den scheinbar gegenläufigen finden: den Anfang vom Menschen, von seiner Situation, von seiner Verfaßtheit her. Kaum könnte dies schärfer zum Ausdruck kommen als in der Formel, die uns im Praeambulum des Soliloquium begegnet: Redde ergo te tibi.1 Hier ist einmal die Situation des Menschen beschworen: sie soll ins Bewußtsein treten, und zugleich ist die Aktivität, die Leistung des Menschen beschworen: er soll sich in die Identität mit sich bringen. Widerspricht dieser „anthropologische“ und ethische Impuls nicht dem fundamentalen Ansatz bei Gott und seiner Initiative?
In derselben Schärfe begegnet uns dieser Gegenzug zum Ausgang von oben in der Collatio I des Hexaemeron2: Sed primo loquendum est de nobis ipsis et videndum, [93] quales esse debemus. Ja durchgängig appelliert Bonaventura an die Einstellung und Verfassung, deren sein Hörer oder Leser bedarf, um den Gang mitzugehen, zu dem er ihn einlädt.
Gerade hier aber wird das Spezifikum des bonaventuranischen Ansatzes von oben sichtbar, gerade hier deutet sich an, inwiefern er nicht einen Kompromiß, sondern eine Vermittlung der in ihrer Isolierung aporetischen Ansätze von Theologie anbietet. Im Soliloquium ist – das ist der Hintergrund der zitierten Formel – die Entfremdung des Menschen der Ausgangspunkt: er ist eingelassen in eine falsche Unmittelbarkeit, in die Unmittelbarkeit, der nicht mehr der Ursprung selber und damit nicht mehr das eigene Selbst in seiner Bezüglichkeit zum Ursprung deutlich ist. Diese falsche Unmittelbarkeit kann der Mensch nun freilich nicht von sich her zerbrechen, sondern ihm muß der Ursprung als ihn wiederholender, einholender, erlösender sich lassen. Das Sich-Lassen Gottes aber kommt nicht anders an als darin, daß der Mensch ihm sich läßt. Nicht Ethos, sondern Glaube, Glaube aber als ein das ganze Leben in sich bergender Vollzug, Glaube als der Abschied vom Ich zum Ursprung hin, der das Ich restituiert: das ist die methodische Voraussetzung des theologischen Denkens.
Deshalb sind für Bonaventura die Achtsamkeit auf den alleinigen Anfang Gottes und auf die konkrete existentiale Situation gleichzeitig; beide sind gemeinsam die Voraussetzung seines Denkens: Nur wenn Gott der erste, der Größere ist, kann die Wahrheit gesehen werden – Wirklichkeit ohne Gott holt die Wirklichkeit Gottes nie ein. Damit aber der Ausgang von Gott möglich wird, ist nicht nur der Ausgang Gottes zu uns notwendig, sein Nahekommen zum Menschen, seine Erleuchtung und Gnade, sondern auch der Weggang des Menschen von sich, der als solcher aber den Menschen mitnimmt, bewahrheitet: Der Mensch ist das transzendierende und gerade darum das sich nicht selbst vermögende Wesen.
Bonaventuras Ansatz von oben entgeht den Engführungen, vor denen bereits zu warnen war: er ist nicht deduktiv, sondern invokativ – die Schriftworte des Anfangs sind bei Bonaventura entweder selbst Anrufung oder in eine solche hineinbezogen. Anrufung ist die Vermittlung in den Ausgang von oben, und kraft dieser Vermittlung ist das principium nie bloßes Prinzip. Die menschliche Endlichkeit des Sprechens und Denkens ist ebenfalls bei Bonaventuras Ansatz von oben nicht vernachlässigt, sondern sie ist „hinweggebrannt“ durch die nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende stehende Auslieferung des Menschen und seines Vermögens an den allein handelnden Gott – bei Bonaventura begegnet eine theologia negativa, die nicht nur Vollstreckung der eigenen Endlichkeit menschlichen Sprechens bedeutet, sondern Auslieferung an Gottes den Menschen übertreffendes letztes Wort. Bonaventuras Ansatz von oben ist schließlich nicht einer, der die Bewegung Gottes zum Menschen hin vergißt – der Ansatz von oben ist für ihn Ansatz bei der Situation des Menschen, in die Gott sich einläßt; allerdings wird der sich einlassende Gott nicht aus dieser Situation heraus- oder in sie hineingerechnet, sondern er erscheint nur im Sich-Lassen und Sich-Verlassen des Menschen aus seiner Situation auf den göttlichen Gott. Damit aber integriert dieser Ansatz von oben den anthropologischen Ansatz; die Integration heißt freilich Krisis. [94] Solche Krisis scheidet eine Subsumption der Theologie unter ihr vom Ansatz her fremde Methodenansprüche aus. Gott kann nicht erscheinen, wo nur das zu erscheinen das Recht hat, was sich vom Menschen machen und kontrollieren läßt; warum er hier nicht erscheinen kann, wird bei Bonaventura aber durchsichtig und zum Einstieg in eine neue, andere Methode, in jene der Struktur, die sich konstituiert in der Gleichzeitigkeit des vorgängigen Sich-Lassens Gottes und des antwortenden, so aber auch seinerseits ursprunghaften Sich-Lassens des Menschen an Gott.
Es bleibt nun zu fragen, wie Bonaventura die gleichzeitigen Bewegungen miteinander vermittelt sieht, welches das strukturierende Prinzip dieser Struktur für ihn bedeutet.