Wandern mit deinem Gott

Anthropologische Perspektiven in Mi 6,8

Es war vom Denken die Rede, das im Mitgang mit Gottes Wort sich selbst und dieses auslegt. Solches Denken ist erhellende Beziehung, in der die sich aufeinander beziehenden Pole, ihre Beziehung und der Einschluß aller Pole ineinander zugleich hellwerden. Denkendes Mitgehen mit dem Wort Gottes ist so immer, wenn auch auf je unableitbare und andere Weise, Auslegung Gottes als Auslegung des Menschen, Auslegung des Menschen als Auslegung Gottes und je darin zugleich Auslegung der Welt, die wiederum ihrerseits den Menschen und Gott selbst ins Licht bringt. Diese allgemeine und formale Beziehung löst sich ausdrücklich ein in Mi 6,8. Es wäre zu weit gespannt, dies hier entfalten zu wollen. Einige Hinweise auf die Anthropologie unseres Verses sind jedoch angebracht, einmal weil so dieser Beitrag dichter sich mit der Gesamtintention des Bandes verknüpft, in den er sich fügt, zum anderen aber von innen her: Die Frage, was der Mensch sei, liegt unserem Text näher als die, was das Denken sei und vermöge. An der Frage nach dem Menschen bewährt sich unsere Auskunft über das Denken. Alfons Deissler selbst – wir zitierten es bereits – sagt über den Vers: „Damit wird der ideale bundespartnerische Mensch gezeichnet, und zwar so kurz und zugleich so treffend, wie das kaum mehr sonstwo in der Bibel der Fall ist.“1 In einer ersten Skizze nennen wir inhaltliche Implikate unseres Verses als Momente einer philosophisch aus unserem Vers zu gewinnenden Anthropologie. Das Wort „Implikate“ hat dabei einen doppelten Sinn: Die Inhalte kommen nicht breit entfaltet, sondern mehr nur impliziert im Text zur Sprache. Zugleich aber kommen sie so zur Sprache, daß jedes Moment auf typische Weise die anderen impliziert. Und gerade in solcher gegenseitigen Implikation wird das Besondere biblischen Denkens über den Menschen sichtbar. Diese gegenseitige Implikation ist aber kein statisch Vorkommendes, sondern ein Weggeschehen, und dieses Weggeschehen ist in unserem Vers nicht nur der Status des Menschen (status viatoris), sondern sein Wesen (Wesen hier in jenem Sinn, der durchaus mit biblischem Denken vereinbar, ja ihm angemessen ist).


  1. Deissler, Alfons: Die Grundbotschaft des Alten Testamentes, 122. ↩︎