Das Verständnis vom Menschen aus dem Anspruch des Evangeliums

Antworten der klassischen Anthropologie

Ich möchte vier gängige Formeln nennen und sie ein wenig in Beziehung zueinander setzen:

a) psyche panta pos estin – anima est quodammodo omnia – die Seele ist auf gewisse Weise alles

b) anima est unica forma corporis – die Seele ist die einzige Form, das einzige Gestaltprinzip des Leibes

c) zoon logon echon – das Lebewesen, das das Wort hat, lateinisch verfremdet – animal rationale

d) zoon politikon – ein politisches Lebewesen.

Am Anfang steht also, daß im Menschen etwas ist, das sich nicht einfachhin als ein Inhalt festlegen läßt. Das, was der Motor, was die Gestaltungskraft im Menschen ist, die anima, die Seele, wird verstanden als etwas, das sich nicht einfach eingrenzen und das sich nicht einfach begreifen läßt mit einer ganz bestimmten beengten Inhaltlichkeit. Beim Tier oder bei der Glocke oder beim Stein kann ich sagen, das oder jenes gehört hinzu, durch den oder jenen Inhalt, der angebbar ist, ist dies ein Tier, eine Glocke, ein Stein. Aber beim Menschen, bei dem, was in ihm das Gestaltende, das Lebendige, das Lebensspendende und das Lebenprägende ist, bei der Seele, läßt sich das nicht sagen. Die Seele hat nicht sich selbst zum Inhalt, sondern die unabschließbare Fülle dessen, wohin sie sich streckt in ihrem Erkennen, in ihrem Streben, in ihrem Erfahren, Empfinden, Projizieren, Träumen, Denken.

Der Mensch denkt über sich selbst hinaus, er reicht über sich selbst hinaus, er ist die Stätte von allem möglichen, die Stätte, an welcher das Ganze, an welcher alles, an welcher das Äußerste, an welcher die Wahrheit, der Sinn, das Letzte und das Kleinste schlechterdings alles sein kann. Er ist jener Marktplatz, der alles präsent, alles versammelt, alles gegenwärtig machen kann. Dieses alle engen Maße Sprengende, dieses sich selbst Überragende und Übersteigende, dieses auf nicht einzelnes Fixierte, dies ist der Inhalt des Menschen. Alles ist der Inhalt des Menschen.

[6] Der Mensch ist jenes Wesen, das sich gerade nur dadurch begrenzen kann, daß ich von ihm das Grenzenlose aussage – anima quodammodo omnia. Aber wie ist im Menschen dieses alles eben da? Wie ist im Menschen diese radikale Selbstüberschreitung da? So, daß diese selbe anima, daß diese selbe Seele eben – so sehr sie in sich selber unbegrenzt ist – das begrenzende und bestimmende Prinzip der Einheit dieses konkreten Menschen ist – anima est forma corporis. Das, was alle Maßen sprengt, das, was über alles hinausreicht, dieses Totale, dieses Ganze, ist zugleich von der Gestalt, daß es in den Menschen hineinfährt, in dieses bestimmte Stück Stoff, und in diesem bestimmten Stück Stoff lebt, dieses bestimmte Stück Stoff zu einer geprägten Gestalt werden läßt. Alles prägt sich, sammelt sich, versammelt sich hier an dieser bestimmten konkreten, geschichtlichen, endlichen Stelle. Dieses alles, dieses über sich Hinaus, dieses, was in Wollen und Streben und Seele und Geist ausgedrückt ist, dieses prägt und bestimmt und ist das Zentrum eines konkreten Lebens. So versteht es die klassische Anthropologie – anima unica forma corporis, jene Formel, die allen anderen Versuchen gegenüber, im Konzil von Vienne 1311/12 dogmatisch sogar festgelegt, aus der Philosophie in den streng theologischen Bereich hinüberreichte. Wie aber formt dieses Alles-übersteigende den bestimmten Stoff, den bestimmten Leib, diesen bestimmten Menschen? Es hat die Gestalt des logos, des Versammelten, des Wortes. Alles selbst wird zu Gestalt, indem es den Menschen in seine Gestalt bringt. Alles kommt selbst in seine Faßbarkeit, indem es vom Menschen ergriffen wird. Es wäre großartig und schön, wenngleich man es sich hier versagen muß, einmal die Weise, wie etwa Thomas von Aquin die Erkenntnis denkt, und die andere Weise, wie die Franziskanerschule eines Bonaventura die Erkenntnis denkt, auf diesem Hintergrund zu lesen. Einmal zu sehen, wie eben gerade diese Umsetzung der äußersten und letzten und ganzen und alles umfassenden Wahrheit im Menschen geschieht, in dieser Gestalthaftigkeit, im logos. Der Mensch ist das Wesen, welches das Wort hat. Und indem der Mensch eben das Wesen ist, welches das Wort hat, hat er nicht nur alles im Sinn und kann er nicht nur über alles reden, sondern er hat eben dadurch die Kraft, selber ein intentionales, ein meinendes, ein sprechendes, ein [7] angehendes, ein auf einen anderen hingespanntes Wesen zu sein, ein Wesen, das alles sagen und darin sich selber mitteilen und darin zu einem anderen sprechen kann. Im Menschen sammelt sich alles und es sammelt sich so, daß es im Menschen aufspringen kann zum anderen hin, so daß nicht der Einzelne bloße Endstation ist, sondern daß er zugleich Ursprung ist, der hinspringt zu einem anderen, sich austauschen kann mit einem anderen, sich eröffnen kann einem anderen. Zoon logon echon – der Mensch als das Wesen der Ratio, zugleich das Wesen der Sprache, mehr als das animal rationale, wenn er jenes Wesen ist, das eben das Wort hat. Jenes Wort, in dem sich alles spiegelt, und er kann diesen Spiegel hindrehen, so daß er darin sich dem anderen und darin den anderen sich spiegelt und dem anderen alles zeigt und vom anderen alles empfängt als reiner Spiegel, in dem dieser andere aufgehen kann. Damit aber ist der Mensch nicht nur jenes Wesen, in welches sich alles eingestaltet, sondern er wird selber gestaltendes Wesen, und erst darin vollendet er sich, daß er Wesen der aktiven Gestaltung wird. Was aber gestaltet er? Gewiß den Stoff, gewiß das, was ihm unter die Finger kommt, gewiß das, was er in der Kunst, im Handwerk und den vielen Weisen der mittelalterlichen artes (Künste) gestalten kann, aber zunächst und zuletzt den Menschen selbst, den anderen nebenan, jene Beziehung zwischen Mensch und Mensch, jenes Zueinander von Mensch und Mensch, das eigentliche Kunstwerk, die eigentliche Dimension, in welcher der Mensch sich als Gestaltender bewährt, das eigentliche Werk, das er vollbringt. Das Eigentliche, was er gestaltet und worin er sich vollendet als Mensch, ist das Miteinander, ist die Polis (Gemeinwesen/Stadt). Daß einer den anderen und das Miteinander prägt und miteinander den Ort gestaltet, an welchem das Ganze sich verwirklicht und spiegelt, daß er die Ordnung des Ganzen wiederholt, einholt und Gestalt werden läßt im Zueinander und Miteinander, dies geschieht in der Polis , und eben dies, daß er den Sinn und die Wahrheit und das Ganze sammelt, nicht nur in sein Inneres, sondern durch sein Wort, durch sein Miteinander, durch sein Sehen, Hören, Sprechen und Empfangen gemeinschaftliches Leben werden läßt, dies eben ist der Endpunkt dessen, daß der Mensch gestaltetes und gestaltendes Wesen ist.