Oikonomia
Architektur: Funktionalität, Gestalt, Spiegelung*
Stellen wir dem einmal unvermittelt eine – vielleicht ebenfalls ungewöhnliche – Sicht von Architektur gegenüber. Wir gewahren an ihr drei Schichten: Zunächst ist Architektur in der Regel (ja im Ansatz: wesentlich) funktional, auf einen wie auch immer gearteten menschlichen Zweck hin orientiert, dem sie entsprechen, dienen soll. Wo dieses Moment ganz verschwände, wo sie reine Form würde, da wäre sie bereits im Überschritt von der Architektur zum Bildwerk begriffen. Ist eine Säule oder ist ein Bogen in sich noch Architektur? Zumindest nur, sofern in Säule oder Bogen eine Art funktionaler Erinnerung an das, was Säule und Bogen in einem Gebäude sollen, anwesend ist. Damit ist freilich nicht eine „Außenfunktion“, sondern die Innenfunktion des architektonischen Elementes im Gefüge Bauwerk angesprochen. Doch diese Innenfunktion ist zumindest im Ansatz mit der Außenfunktion (Wohnung, Tempel, Wehrturm, Aussichtspunkt) verbunden.
[307] Allerdings bringt uns die Frage, ob von Architektur noch zu sprechen ist, wenn das Funktionale verschwindet, bereits hinüber in die zweite Schicht: Gestalt. Bauwerk (oder auch architektonische Gartenanlage, Platz, Straßenführung) ist immer, ist wesenhaft Gestalt. Wo die Gestalt, wo die Form in ihrer inneren Stimmigkeit irrelevant wird, erhebt sich von neuem die Frage: Ist das noch Architektur? Ob Funktionalität in sich selber Gestalt sei, ob sie des Schmuckes bedürfe, wie Schmuck und Funktionalität sich zueinander verhalten: wie immer diese und viele damit zusammenhängenden Fragen gestellt, anders gestellt, beantwortet, nicht beantwortet werden, sie sind doch Hinweis darauf, daß Gestalt einfach geschieht, indem gebaut wird, und daß diese Gestalt von dem, der baut, zu gestalten, zu „verantworten“ ist. Architektur ist nicht nur das Bauen in der Entsprechung zu einem Zweck, sondern zugleich Gestaltung.
Verborgener ist die dritte Schicht, die zunächst als bloß historisch oder als esoterisch erscheinen mag, die im Grunde jedoch Architektur durchgängig bestimmt: Architektur ist Spiegelung. Das bedeutet nicht notwendig: Abbildung – und doch kommt auf gewisse Weise in jedem architektonischen Gefüge das Ganze, die Welt ins Bild.
Es darf zu denken geben, daß das alte Weltbild ein Bild des Hauses war (Erde, auf Grundfesten, überwölbt vom Firmament, vom Dach des Himmels). Oder ist es doch umgekehrt: Ist das Haus Bild der Welt? Es mag so scheinen, daß es ein Kennzeichen der mittelalterlichen Architektur, zumal der Kirchenarchitektur, gewesen sei, den Himmel und die Welt zu spiegeln und ins Bild zu bauen. Näher besehen, wird hier aber nur etwas thematisch, was im Untergrund je da ist: Zeig mir dein Haus, und ich zeige dir deine Welt! Die Welt, das Ganze ist so, wie wir den Raum unseres Wohnens bauen; die Welt ist so, wie wir sie bewohnen und in diesem Sinne: bauen. Das Geheimnis dessen, wie der Mensch sich selbst und die Welt und den Sinn des Daseins versteht, wirkt hinein in sein Bauen, verkörpert sich in ihm.