Berufungspastoral um die Jahrtausendwende

Auf 2000 zu – die Großräume

Auch wenn es bereits zur Mode wird, wir können uns dem nicht entziehen, daß die Jahreszahl 2000 in unser Denken und Reden drängt, Ängste und Hoffnungen, Ratlosigkeit und Verantwortung beschwörend. Und bei dieser Zahl 2000 steht notgedrungen die Welt vor uns, deren Teile im zur Neige gehenden Jahrhundert so dicht zusammenrückten wie noch nie. Der Horizont der ganzen Welt, Menschheitsgeschichte als unteilbares Geschick stehen unausweichlich vor uns, wenn wir nach der eigenen Zukunft fragen. Mit der Einheit der Welt wuchs aber auch die Schärfe [2] der Spannungen, die Sprengkraft der Unterschiede. Vergröbernd, gleichwohl in einer differenzierteren Betrachtung durchaus begründet, können wir drei Grundsituationen namhaft machen.

Es gibt weite Regionen unserer Welt, in welchen ideologische Systeme das gesellschaftliche Leben und mit ihm Handeln, Verhalten und Möglichkeiten auch des einzelnen bestimmen. Sich selbst organisierende und das ganze Leben in sich hineinziehende Ideologien sind ein Kennmal unseres Jahrhunderts. Das ist eine Weltsituation. Schickt sie sich an, unsere oder sogar die Weltsituation um die Jahrtausendwende zu werden? Wo steht der Christ in dieser Situation? Antwort: zwischen Martyrium und Dialog. Genauer betrachtet, ist der Christ immer und überall von beiden Polen solcher Spannung zugleich bestimmt. Immer ist er Zeuge, immer ist er Partner. Was Ungezählte, die uns nicht nur innerlich nahe sind, zu bestehen haben, fordert uns heraus. Berufungspastoral auf die Jahrtausendwende zu heißt unabdingbar: Befähigung zu Zeugnis und Gespräch, zu Martyrium und Dialog.

Eine weitere Grundsituation, deren Dramatik Weltgeschichte auf die Jahrtausendwende zu bestimmt, ist gekennzeichnet durch das, was man gängig das Nord-Süd-Gefälle nennt. Das Elend der vielen und der Reichtum der wenigen – dieses Menschheitsproblem schreit zum Himmel. Wirtschaftliche und politische Lösungen stehen an, sie allein genügen aber nicht, ja sie können nicht einmal gelingen, wenn nicht eine tiefere Umorientierung unseres Sehens, Lebens und Verhaltens erfolgt. Die technische Zivilisation mit den von ihr abhängigen Wirtschafts- und Kommunikationsmöglichkeiten hat die Welt zum unteilbaren Nahraum des Lebens aller werden lassen. Sie hat Entwicklungsmöglichkeiten für alle bereitgestellt – aber auch zwei brisante Gefahren gezeitigt. Das eine ist die „Schere“ zwischen den Hochentwickelten und jenen, die mit solcher Entwicklung nicht Schritt halten können. Diese Schere öffnet sich immer weiter, und mit dem Anteil der Unterprivilegierten an der Entwicklung wächst die Gefahr ihrer Abhängigkeit.

Das andere Problem: Selbstverlust, Identitätsverlust. Um über das Elend hinauszuwachsen, um Überlebensmöglichkeit und Entwicklungsmöglichkeit zu gewährleisten, ist Einfügung in den Stil und Gang der technischen Zivilisation erfordert. Mitgebrachte Eigenwerte ganz anderer kultureller Prägung und Lebensgewohnheit treten im Rampenlicht moderner Kommunikation allererst ans Licht – und drohen in ihm zugleich verfremdet, ja nivelliert zu werden. Die Stichworte der lateinamerikanischen Bischofsversammlung von Puebla, communio und participatio, treffen in der Tat das, was in den Entwicklungsländern not tut: umgreifende Gemeinschaft, in welcher jeder sich einbringen kann, darin aber Teilhabe am Einen und Ganzen. Hier liegt eine drängende Aufgabe nicht nur innerhalb der Gesellschaften der Dritten und Vierten Welt, sondern für einen Weltdialog, einen interkulturellen Dialog. Wir können auf 2000 zu nur leben, wenn wir uns nicht auf unsere eigenen Lebensgewohnheiten und Ansprüche fixieren, sondern sie loslassen und einfügen ins Hören, ins Lernen innerhalb eines Dialoges, der von uns verlangt, Anteil zu geben an dem, was wir mitbringen und haben, und Anteil zu nehmen an dem, [3] was andere uns zu geben und zu sagen vermögen. Die Fixierung auf unsere eigenen Traditionen muß aufgebrochen werden nicht in ein romantisches Schwärmen für interessante Andersartigkeit, sondern in die ehrfürchtige und opferbereite Nüchternheit solchen Weltgesprächs. Berufungspastoral auf die Jahrtausendwende zu muß im Auge behalten, daß Gott jeden, den er zu sich ruft, für die ganze Welt und in die ganze Welt beruft. Das gilt auch noch für den christlichen Eremiten.

Die dritte Grundsituation kennen wir am besten – und doch ist sie die rätselhafteste: die unsere, jene der Ersten Welt, jene der westlichen Zivilisation. Wird diese erste Welt mit ihren Ideen und Techniken noch prägend sein, ja wird sie überhaupt noch präsent sein in der Welt? Diese Frage, die ebenso den Mut zur Auseinandersetzung mit Ideologien wie zur Horizonterweiterung auf andere Möglichkeiten des Sehens und Lebens erfordert, ist indessen nicht nur eine Frage nach außen, sondern auch eine Binnenfrage für uns hier im westlichen Europa. Wird die technische Entwicklung einfach, mit Krisen und Kurskorrekturen, so weiterlaufen, wird das Resultat der inneren Gefahren, die dem Menschen und der Welt durch den Menschen beim Geschäft seiner totalen Weltbeherrschung zuwachsen, eine an den Bestand gehende Katastrophe sein? Wird ein mit der Technik wachsendes Leistungsdenken von seinem Schatten, dem Konsum- und Anspruchsdenken so paralysiert werden, daß es zu einem inneren Verfall der hochzivilisierten Gesellschaft und ihres Lebenswillens kommt? Wird die Suche nach Alternativen über das zerstörerische Nein oder über den ideologischen Selbstbetrug hinauskommen, wird sie die Grundlage finden für eine neue Kultur, für jene „Zivilisation der Liebe“, welche die letzten Päpste immer wieder beschwören. Wer in die Situation um die Jahrtausendwende von Gott hineingerufen wird, der ist berufen nicht zur ratlosen Weltflucht oder phantastischen Weltsucht, sondern zu jenem nüchternen und wirksamen Weltinteresse des liebenden Gottes.

Berufungspastoral um die Jahrtausendwende ist Pastoral, welche auf neue Weise die Welt wahrnimmt und annimmt aus jener Liebe, die zum Zeugnis und zum Dialog, zum Nehmen und zum Geben, zum Hören und zum Sprechen, zur Treue und zur Alternative aus dem her befähigt, der die Liebe ist. Die drei Stichworte dieser Liebe in den drei Grundsituationen der Welt sind im letzten überall gültig und dringend: Christsein zwischen Martyrium und Dialog – Weltgespräch – unterwegs zu einer neuen „Zivilisation der Liebe“.