Berufungspastoral um die Jahrtausendwende

Auf 2000 zu – Grund-Wende?

Wir leben in der einen Welt – sie erfordert eine Abkehr von dem Monosystem einer bloß technischen Verflechtung aller mit allen in die Partnerschaft vieler, die innerhalb der einen Weltkommunikation aufeinander als Schuldner und Schenkende angewiesen sind. Wir leben in einer Epoche, in welcher die Suche nach der Zukunft zur Suche nach Ursprüngen wird, nach Ursprüngen, die sich nicht im Es oder Super-Ich einer universalen technischen Rationalität oder der von ihr produzierten Weltgestalt erschöpfen.

Blicken wir auf die Welt im ganzen, so nehmen wir einen Konflikt wahr zwischen dem alle mit allen verschränkenden System der Abhängigkeiten und den einzelnen, eigengeprägten Partnern der einen Welt. Betrachten wir die einzelnen Gesellschaften, so treffen wir auf den Konflikt zwischen dem einzelnen und dem jeweiligen „System“, das ihn zu verplanen oder total in Anspruch zu nehmen droht mit seinen Bedürfnissen und Verhaltensweisen. Eine solche Betrachtungsweise legt freilich nur einen Schnitt durch die viel komplexere Wirklichkeit. Und doch ist das Ergebnis signifikant. Denn auch bei anderen möglichen Schnitten träte zutage, daß das Grundproblem unserer heutigen Welt die Einheit ist: jene Einheit, in welcher der je einzelne Partner nicht durch ein Über-Ich erdrückt wird, jene Einheit, in welcher dennoch umfassende Kommunikation im Zusammenspiel der vielen Pole offensteht. Die Suche nach Ursprüngen ist, bewußt oder unbewußt, die Suche nach dem, was solche Einheit stiftet und gewährt. Damit erhält die unser Jahrhundert immer wieder durchklingende Rede vom „Ende der Neuzeit“ eine Zuspitzung. Wagen wir, einen Augenblick lang – dieser abstrakteste Punkt unserer Überlegungen wird in den Folgen sich als besonders konkret erweisen – eine geistesgeschichtliche Betrachtung unserer geschichtlichen Grundsituation anzustellen. Wichtige Voraussetzungen sind bereits in unseren Blick getreten. Eine der Leitfragen, an denen sich das Profil einer Epoche ergibt, ist die nach dem spezifischen Verhältnis zur Zukunft. Uns fiel auf, daß ein seit Jahrhunderten währendes, eben das neuzeitlich zu nennende Grundverhältnis zur Zukunft sich zu wenden scheint. Dieses neuzeitliche Verhältnis zur Zukunft setzt sich vom voraufgehenden mittelalterlichen ab: Im Mittelalter war der Grundstrom geistigen Lebens die traditio, die Weitergabe eines Empfangenen, das währt und sich bewährt. Rückfrage an die Tradition, geistige Aufarbeitung gehörten durchaus zum Rhythmus des geistigen Lebens im Mittelalter dazu – erinnert sei an die vielen Reformbewegungen innerhalb der Orden, die nicht nur auf den eigenen Ursprung, sondern auch auf die Kraft des Evangeliums sine glossa zurückgriffen; erinnert sei auch an das Grundprinzip der Scholastik, wie es Anselm von Canterbury formulierte: fides quaerens intellectum, Glaube, der seine intellektuelle Begründung und somit Rechtfertigung von innen her heischt. Im Spätmittelalter greift eine Unsicherheit um sich: Ist das Tradierte und ist die herkömmliche Weise seiner intellektuellen Rechtfertigung tragfähig? In Renaissance, Reformation und frühem Rationalismus bricht es dann auf: Setze an die Stelle der Tradition andere Ursprünge, setze den Menschen und seine Rationalität selbst als Ursprung, nicht um im vorhinein die Tradition abzustoßen, sondern um sie [8] zu rekonstruieren oder gar um die Welt zu konstruieren. Die Bedeutung des Gottes, der die Autorität aller Autorität, der Ursprung und das Maß aller Tradition ist, wird relativiert zum bloßen Garanten der menschlichen Subjektivität, oder dieser Gott wird zum intellektuellen Systemansatz. So oder so ist es im Grunde die ratio, die aus einem Ich heraus, dieses auslegend, zugleich die Welt erschließt, durchsichtig macht, konstruierbar macht.

Das Subjekt als Ausgangspunkt, von dem her das Ganze sich organisiert, wird, wenn auch in mannigfacher Spielart, zum Grundwort der Epoche. Hierbei freilich gibt es zwei Grundtypen, wie solche Subjektivität ansetzt. Der eine Grundtyp: Alles setzt an beim einzelnen, bei seiner individuellen Existenz. Die ganze Welt wird zum Feld, in welchem das Selbst sich verwirklichen will. Die Wertigkeit und der Sinn des Daseins bemessen sich daran, wie es dem einzelnen gelingt, alles zum Ausdruck seiner selbst, seiner Befindlichkeiten und Wünsche werden zu lassen. Auch die Gesellschaft wird vom Anspruch aus konstruiert, den der einzelne auf möglichst umgreifende Selbstverwirklichung erhebt. Der andere Grundtyp der Subjektivität, in ungezählten Variationen durchprobiert, ist der Ansatz beim „System“. Es gibt etwas wie ein die Welt umspannendes ihr zugrunde liegendes, in ihr als Äußerung sich objektivierendes Selbstbewußtsein, das alles und jedes zu seiner eigenen Erscheinung werden läßt. Der einzelne hat an diesem universalen Selbstbewußtsein Anteil; und so wird postuliert, daß das, was aus der inneren Logik des universalen Selbstbewußtseins heraus deduziert und konstruiert wird, letztlich auch der Seligkeit des einzelnen, seiner Verwirklichung dient. Absolut gesetzte Technokratie und Funktionalität oder aber Gleichsetzung des universalen Subjekts mit einem ideologischen Systemträger entsprechen dem als gesellschaftliche Organisationsformen.

Ideologische oder technokratische Absolutsetzung eines Systems – Protest oder Resignation gegenüber Welt und Dasein, die sich nicht dem Anspruch, Wollen und Entwerfen des je einzelnen fügen, sind „typische“ Erscheinungen der Neuzeit, zumal ihrer Endphase. Es versteht sich im Grunde von selbst, daß es dabei zu einem unversöhnlichen Gegensatz zwischen Subjekt als System und Subjekt als Individuum kommt. Daran wird die innere Brüchigkeit eines systematisch-subjektiven Ansatzes überhaupt sichtbar: Widerspruch des Systems gegen sich, Widerspruch des einzelnen gegen sich.

Die tiefgreifende Unruhe, die nach neuen Formen der Einheit im Weltgespräch und nach neuen Ursprüngen der Einheit sucht, wird so zur Anzeige für eine Wende im Grundgefüge der Epoche. Die Signale deuten hin auf ein Menschen- und Weltbild, das nicht mehr, so oder so, nur vom einzelnen oder nur vom Ganzen als Subjekt her ansetzt. Diese Vermutung führt uns zurück in die Mitte dessen, worum es bei unserem Thema geht: anthropologische Hintergründe und theologische Perspektiven einer Berufungspastoral um die Jahrtausendwende.