Jahresschlussandacht 1993

„Auf dich, o Herr, habe ich meine Hoffnung gesetzt“

[128] Liebe Schwestern und Brüder!

Es ist eines der großartigsten Zeugnisse der Hoffnung, was wir gleich vernehmen werden am Ende des „Te Deum“ von Anton Bruckner. Diese Schlußpartie über das „In te, Domine, speravi“, „Auf dich, o Herr, habe ich meine Hoffnung gesetzt. In Ewigkeit werde ich nicht zuschanden“ ist ein solches Stuck inkarnierter Hoffnung, daß man eigentlich Hoffnung gar nie mehr abtun kann. Aber schauen wir in unsere Zeitgeschichte hinein, dann werden wir entdecken, daß das Wort Hoffnung nicht zu den Hauptworten dieser Epoche zählt. Noch vor 20 Jahren war das ganz anders. Da war das Buch von Bloch über das Prinzip Hoffnung, da war der Synodenbeschluß „Unsere Hoffnung“, da waren so viele andere Dokumente, die immer und immer wieder dieses eine Thema variierten, manchmal in sehr kritischer Zeit und manchmal mit großen Sorgen. Dennoch zeigten sie immer wieder die große Spur: die Hoffnung.

[129] Heute ist die Stimmung eher pragmatisch bis resignativ. Natürlich gibt es auch heute Hoffnungen, und natürlich haben wir Grund dazu. Aber welcher Art sind die Hoffnungen, die uns heute vor allem bewegen? Wir hoffen, daß aus dieser vorübergehenden Rezession nicht eine dauernde Umänderung unseres ganzen Arbeitsmarktes, unserer ganzen Wirtschaft so erfolgen wird, daß wir hier ganz anders leben müssen, als dies heute der Fall ist. Wir hoffen, daß doch endlich einmal ein Einsehen ist, wie wahnsinnig diese ethnischen und manchmal sogar noch mit religiösen Motiven verbrämten Auseinandersetzungen von Völkern sind und daß dieser Wahnsinn doch endlich aufhört. Wir hoffen, daß endlich eingesehen wird, daß mit Gewalt nichts zu erreichen ist. Diese und viele andere Hoffnungen spielen für uns heute eine Rolle, und so flammt da dort und dort ein Hoffnungszeichen auf. Es gibt diese kompetenten, wichtigen, dringenden Hoffnungen in unserer Zeit. Aber auch wenn sich alle diese Hoffnungen erfüllen ließen, frage ich mich: Was wäre dann? Ist dann alles gut? Fehlt uns heute nicht doch so etwas wie eine flammende Zukunftsvision?

Ich sehe nicht, daß unsere Gesellschaft verbunden ist durch gemeinsame Ideale. Wenn ich gefragt würde, wie es denn um die Hoffnung steht, dann würde ich überspitzt formulieren: Hoffnungen – ja, Hoffnung – nein. Es gibt in unserer Zeit viele Hoffnungen, aber keine Hoffnung. Das aber ist genau das Gegenteil von dem, was wir bei Anton Bruckner heraushören können. Hoffnungen mögen zer- [130] brechen, Hoffnungen mögen Enttäuschungen werden, Hoffnungen mögen zugrunde gehen, aber die Hoffnung kann mir niemand nehmen. Und wenn ich die Hoffnung habe, dann werde ich auch aufbrechen und neuen Hoffnungen ihr Recht und ihren Weg bereiten.

Hoffnung – wie steht es um sie? Was war denn das Großartige bei den Visionen der Theologie und der Philosophie über die Hoffnung? Man ertastete, man sah und man sagte, daß dem menschlichen Dasein ein Rhythmus innewohnt, der immer und immer wieder ein Ziel entwirft. Dieses Ziel erreichen wir vielleicht nicht. Aber wir korrigieren unseren Entwurf daran, wir bleiben dabei. Es gibt eine innere Dynamik, die immer nach vorne weist und die uns immer das verwandeln hilft, was uns nicht gelingt.

Zu diesen großen Hoffnungsentwürfen gehörte auch der Kommunismus. Sicher, er hat sich selbst Lügen gestraft; denn eine Hoffnung, die wahrhaft Hoffnung ist, muß sich nicht mit Gewalttätigkeit durchsetzen. Aber der Atem der Hoffnung war da. Es war jedoch eine ideologische Hoffnung, eine Hoffnung, die darauf ging, daß der Mensch selber alles und das Entscheidende täte. Eine Hoffnung, die nicht die Balance kannte zwischen Freiheit und Einheit. Deswegen mußte mit innerer Notwendigkeit diese große Hoffnung zerbrechen.

Aber es gab auch eine große Gegenhoffnung, und die ist ebenfalls am Zerbrechen. Die Hoffnung, daß es doch gelingen möge, eine Welt aufzubauen, in der Freiheit und [131] Friede da sind, in der wir aus innerer Überzeugung solidarisch sind miteinander, in der wir die eine Welt schaffen, in der wir Rücksicht auf kommende Generationen nehmen, in der das Leben sein Recht hat. Auch diese Vorstellungen sind mehr oder minder zerbrochen zusammen mit dem Kommunismus. Denn was haben wir erlebt? Als endlich der große blockhafte Gegensatz von Ost und West weg war, da parzellierten sich die Streitfälle, da wurden die Kriege kleiner, aber fast noch unheimlicher. Wir können nicht mehr absehen, wir können nicht mehr überblicken, was in der Welt los ist. Und so ziehen wir uns zurück und kreisen um uns selbst. Hoffnung hat es heute nicht leicht, Hoffnungen zerbrechen, Hoffnungen finden nicht ihr Bild.

Angesichts dessen entdecke ich in unserer Gesellschaft und auch bei uns drei Strategien, von denen ich überzeugt bin, daß sie nicht die richtige Lösung darstellen. Die erste Strategie ist einfach die, keine Strategie zu haben, sondern einmal die Dinge kommen zu lassen. Man hat seine Eckwerte, die man durchträgt, man möchte, daß es keine Gewalt gibt, man möchte, daß es kein Unrecht gibt, man möchte, daß es ein Minimum an Solidarität gibt, aber im Grunde erhoffen wir nichts weiter, als daß wir überleben können. Wir lassen es kommen, und was da kommt, das flotiert, das schwimmt daher, und wir wissen nicht, was es will. Diese Konzeptionslosigkeit eines bloßen Pragmatismus, in der wir ums Überleben kämpfen und in der wir noch das Beste aus dem heraus- [132] holen, was da zu machen ist – soll das eine Jugend begeistern? Soll das eine kommende Generation entflammen? Soll das wirklich das Engagement geben, sich einzusetzen? Dieses wohlorganisierte Überleben, bei dem dennoch die Schatten der Not und des Schrecklichen im Hintergrund stehenbleiben – soll das uns Hoffnung für die Zukunft geben?

Die zweite Strategie ist jene der neuen Gewalt. Es ist so, nachdem die großen Gegensätze zerbrochen sind, brechen ganz irrationale andere auf: Nationalismen und kleine Gruppen, die sich fanatisieren. Dahinter steht einfach ein Nicht-gestalten-Wollen, ein Zerstören-Wollen. Aber da muß ich mich korrigieren. Ist es ganz richtig, hier zu sagen: ein Nicht-gestalten-Wollen? Oder steht dahinter nicht vielleicht eine andere Erfahrung? Die Erfahrung, daß dieses bloße Treibenlassen, die Konzeptionslosigkeit, das Einfach-Kommen-Lassen, wie es kommt, daß dies nicht weiterführt. Denn der Mensch braucht doch etwas, was ganz ist. Der Mensch braucht doch etwas, was alle seine Kräfte mobilisiert. Und wenn er das nicht findet, wenn er das nicht hat, wenn ihm das nicht plausibel ist aus seiner Welt und wenn er nicht die Möglichkeiten findet, selber sich zu äußern und zu gestalten, dann kommt er in ein Gegen, dann kommt er in die Gewalt, dann kommt er in die Zerstörung. Schlagen wir nicht ein mit unserer Kritik auf die junge Generation, sondern fragen wir uns, auch als Christen, ob wir gegenüber der Zerstörung den Menschen, besonders den jungen Menschen, [133] die Alternativen gegeben haben im Gestalten und im Aufbau, in der Liebe und in der Hoffnung.

Eine dritte und immer breiter werdende Strategie ist jene der postmodernen konstitutiven Hoffnungslosigkeit, die fast eine geplante Hoffnungslosigkeit ist. Man will gar keine Hoffnung mehr haben – zu was soll ich etwas Großes erhoffen? Ich lebe im Jetzt. Die großen Einheitsentwürfe haben doch immer nur Ideologien gebracht, die großen Einheitsentwürfe endeten in Gewalt. Einfach damit spielen, was jetzt sich gibt. Einfach einmal das tun, was jetzt gerade „in“ ist. Einfach einmal schauen, ob etwas dabei ist, was mich trägt. Und wenn es dann nicht mehr trägt, es lassen. So zerbrechen die Beziehungen zu anderen Menschen. Sie werden einmal mehr nur ein Probefeld. So zerbricht das Ja zur Ganzheit des eigenen Lebens. Es wird aus irgendwelchen Quellen gespeist, von mir nie ganz adoptiert, so daß es weder Identität noch Verantwortung gibt. Es zerbrechen die überlieferten Vorstellungen vom Jenseits, die dann irgendwo in esoterischen Ideen von Geburt und Wiedergeburt verlaufen, aber den Menschen in seiner Einmaligkeit nicht stellen, um wirklich Position zu beziehen.

Auch hier wäre es falsch, nur mit dem moralischen Zeigefinger zu kommen. Aber wir müssen uns fragen: Woher kommt das? Wir sind in unserer totalen Mediengesellschaft so vielen Eindrücken ausgesetzt. Wir sind in so viele bunte Fächer hineingestellt und hineingesetzt. Wir haben so viele Bühnen in unserem eigenen Welttheater, [134] auf denen gleichzeitig unser Leben gespielt wird und spielt, so daß wir es im Grunde eigentlich nicht vermögen, eine Verbindlichkeit durchzutragen und zu leben. Aber wenn wir uns von den Verbindlichkeiten zurückziehen, wenn wir alles so geschehen lassen, wenn wir das Beste dabei herausholen in diesem unendlichen Spiel – was dann? Wie soll dann Solidarität wachsen? Wie soll dann dieses Gefälle zwischen Nord und Süd anders werden? Wie soll da in unserer Gesellschaft etwas passieren für jene, die es sich nicht leisten können, dieses Spiel mitzumachen? Was soll dann geschehen?

Es geht so nicht weiter. Wenn unter der zerbrochenen Hoffnung nur die Hoffnungen geistern, und wenn diese Hoffnungen uns zum Treibenlassen oder zur Gewalt oder zur postmodernen Beliebigkeit hintragen, dann ist es nicht gut um uns bestellt. Wo zeigt sich uns heute, liebe Schwestern und Brüder, eine Linie von Hoffnung? Ich glaube, sie zeigt sich uns. Aber, die große Hoffnung wird heute mit kleinen Buchstaben geschrieben. Wenn ich einmal hineinschaue in das, was ich im jetzt zu Ende gehenden Jahr allein in unserem Bistum erfahren habe in Briefen, in Begegnungen, in Visitationen und in vielen anderen Punkten an Bereitschaft, dem anderen zu dienen, doch eine Last zu tragen, doch den Mut nicht sinken zu lassen, doch mit diesem tragischen Schicksal fertig zu werden, doch zu verzeihen und zu erbarmen, doch einen neuen Anfang zu wagen, dann ist das vielleicht ganz klein und ganz wenig gegenüber diesen großen Dingen, von denen ich gesprochen habe. Aber diese kleinen Dinge [135] sind größer, weil in ihnen etwas Unzerstörbares lebt. Es spinnt sich so etwas wie ein feines Netz von Erfahrungen und von Zuversichten, in denen die große Hoffnung wächst. Es zeigt sich im Kleinen, daß eben der Gott, der die Liebe ist und der das Erbarmen ist, der die Solidarität ist und der die Gemeinschaft ist, mehr Recht hat.

Und so darf ich doch zur Umkehr einladen. Kehren wir um zu unserem einen, eigenen Leben. Nehmen wir unser Leben wieder in die Hände und sagen wir nicht, es ist zu schwer, wir schauen lieber zu, was herauskommt. Nehmen wir unser Leben in die Hände, tragen wir es durch.

Kehren wir um zu unserem eigenen Sterben. Flüchten wir uns nicht in irgendwelche Esoteriken, sondern stellen wir uns dem, der uns liebt und der uns anschaut und der uns in die Verantwortung ruft. Und der deswegen, weil er uns in die Verantwortung ruft, uns ein Gewicht und uns einen Ernst und uns eine Würde gibt.

Kehren wir um zu dem Nächsten. Lassen wir ihn nicht an uns vorbeilaufen und zucken wir nicht mit den Achseln, sondern sehen wir, daß, umkehrend zu ihm, wir umkehren zu einer neuen Hoffnung, weil nur dann, wenn wir solidarisch miteinander werden, etwas in dieser Welt sich ändern kann.

Kehren wir um in die eine Welt. Schauen wir wirklich, was in dieser Welt los ist. Achten wir nicht nur darauf, wie es allein uns geht – und die anderen müssen selbst fertig werden.

[136] Kehren wir um zu dieser einen Natur, aus der wir und viele Generationen nach uns noch leben müssen und bei der es nicht egal ist, was wir mit ihr anfangen.

Ja, das ist leicht gesagt: Kehren wir um! Aber wenn wir es im Ernst tun wollen, wie geht das? Es geht nicht anders, als daß wir sagen: Kehren wir um zu Gott. Aber genügt das? Ist dieser Gott nicht manchmal so groß, so fordernd, so fremd, daß wir keinen „Pack-an“ bekommen? Ist dieser Gott nicht so überfordernd, daß wir doch wiederum in uns selber zurücksinken? Der Gott, welcher der Vater unseres Herrn Jesus Christus ist, ist nicht zuerst der fordernde Gott. Er ist es auch, und wenn er es nicht wäre, würden wir nicht ernstgenommen. Aber er ist es nicht zuerst, sondern er ist zuerst der uns aushaltende Gott. Gott, du hältst mich aus, wie ich bin. Gott, du hältst diese Welt aus, wie sie ist. Gott, du hältst diesen Nächsten aus, wie er ist. Ausgehalten werden von ihm, der herniedersteigt, der sich entäußert und Knechtsgestalt annimmt, das ist der einzige Weg, in dem sich uns das Tor zur Hoffnung wieder öffnet. Ihn annehmen als den, der uns zuvor angenommen hat. Von ihm uns tragen lassen. Es glauben, daß wir ausgehalten sind. Das ist das Nadelöhr, durch das wir den Faden der Hoffnung eingefädelt bekommen. Dieser Gott kann wahrhaft Hoffnung geben. Und hier kann unsere Kirche mit all ihren Fehlern und Schwächen, mit all ihren zu großen und zu kleinen Forderungen und Anforderungen, hier kann sie etwas Ungeheures sein: eine Gemeinschaft von Men- [137] schen, die glauben, daß sie angenommen sind und ausgehalten sind, eine Gemeinschaft von Menschen, die einander aushalten.

Wir haben als Lesung ein Stück aus dem Römerbrief gehört: „Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung“ (Röm 5,3.4). Bewährung hat es mit diesem Aushalten zu tun. Im Römerbrief wird uns gesagt, daß aus der Bewährung, dem Aushalten die Hoffnung kommt. Natürlich ist damit zunächst unser Aushalten gemeint. Aber wir dürfen auch einmal dieses Stück gegen den Strich lesen. Wir sind nicht in erster Linie jene, die selber aushalten, sondern die, die ausgehalten sind von Gott. Gottes Uns-Aushalten ist die Spur und der Weg unserer Hoffnung. Ganz leise, ganz klein und doch so groß und so klar und so sicher, daß wir jubelnd mitsingen und mitbeten dürfen, wenn wir gleich Anton Bruckners „Te Deum“ hören und wenn gleich uns gesagt ist: „In te, Domine, speravi: non confundar in aeternum.“ „Auf dich, o Herr, habe ich meine Hoffnung gesetzt. In Ewigkeit werde ich nicht zuschanden.“