Das Heilige und das Denken

Aufgang des Heiligen als Zeitigung

Verdankendes Denken weiß um den Rang der von ihm nie einholbaren Zueignung, der es sich verdankt, und weiß sein Verdanken darum in die Treue gerufen. Treue ist so das Gegenteil der verfügenden Präsenz, ist die Identität des Währens mit dem Ereignis, ist die innere Zeitlichkeit der bleibenden Gegenwart, indem [55] sie diese nicht und sich nicht ablöst aus der Zeitigung, der sie unverfügbar sich verdankt und die sie qualitativ und wesentlich nie abgilt mit ihrer Leistung und ihrem Vermögen.

Treue ist „ewig“ auf die Weise der aus dem Andenken auf Hoffnung hin sich durchhaltenden, aber nicht festhaltenden, sondern offenen, ebenso jeweiligen wie bleibenden Geduld. Ihr geht das Geheimnis des Heiligen in seiner Ewigkeit auf, die sich von jener der „ewigen Wahrheiten“ oder „ewigen Werte“ wesenhaft unterscheidet: Diese erscheinen wie weggestellt aus der Zeit, einem sich ebenfalls aus seiner Zeitlichkeit sich wegstellenden Denken beliebig erreichbar, vielleicht gar sein eingeborener Inhalt. Zwischen ihnen und diesem Denken waltet eine prästabilierte Harmonie, eine Übereinstimmung, die als solche, als Verhältnis nicht von Belang, sondern ins fraglose Anwesen überspielt erscheint.1

Denken wird hier entweder die Selbstverständlichkeit der ewigen Wahrheiten und Werte und so das sich selbst Selbstverständliche und zuletzt Fraglose, oder es wird gar die sie aus sich selbst setzende und vermögende Macht. Es gerät in eine diesseits oder jenseits des menschlichen Gedankens wurzelnde, so oder so aber sich in ihm vollstreckende Alleinigkeit mit sich selbst. Sie weist nicht in die unaufhebbare Zweiheit von Zu-denken und An-denken zurück, sondern subsumiert das Zudenken vorstellend ins eigene Andenken, läßt das Denken so sich selbst als Andenken vergessen und bringt es zum perfekten, fertigen Vorliegen für sich selbst, zur Zeitlosigkeit, weil Zukunftslosigkeit.

Die Ewigkeit heiligen Geheimnisses, wie sie in der treuen Geduld verhoffenden Andenkens gegenwärtig ist, verdeckt hingegen nicht, sondern eröffnet das Verhältnis, das im besitzenden Wissen ewiger [56] Wahrheiten oder Wahren ewiger Werte entschwindet. Dieses Verhältnis ist selbst die Zeitigung. Das heißt fürs Denken: Es weiß sich gezeitigt, mit sich selbst beschenkt und beladen, und gerade daher, daß es sein darf und sein soll, ist es nie am Ende. Es bleibt sich treu, indem es seiner anfänglichen Gabe und Weise treu, je neu sich vernimmt in sein Nie-zu-Ende-Gedachtsein. Was bleibt, ist gerade dieses Verhältnis, ist die Uraufhebbarkeit des Verdankens und Vernehmens. Solche Unvollendbarkeit des Denkens versteht sich selbst nicht als unstetes Immer-weiter-Getriebensein, sondern nimmt in sich die Unerschöpflichkeit der Gewähr wahr, die das Denken an sich weist und mit sich beschenkt.

Für das heilige Geheimnis heißt dieses selbe, heißt seine in der Zeitigung des Denkens offenbare Ewigkeit: Das Geheimnis schlägt nicht dahinein um, selbst gezeitigt, selbst zum Gedachten oder doch Denkbaren des Denkens, zum potentiellen Perfectum zu werden, es „ist“ reine Gewähr, reines Gegenwärtigen und Zeitigen, reines Zu-denken, im es eröffnenden Geschehen der Zeitigung ihr je vorenthalten und so nur und so gerade in ihr da. Sich zudenkend ist es nie ausgedacht, sich zusagend nie aussagbar, und nur, weil es nie auszudenken ist, ist sein Zu-denken nie am Ende, nur weil nie aussagbar, erschöpft sich auch seine Zusage nie, nur dadurch also, daß es sich dem vernehmenden Gegenübersein des Denkens je auch noch vorenthält, ist es überhaupt als es selbst da – ähnlich wie das erklärte und ins Verstehen aufgearbeitete Du verschwände, wie das Du also nur in der Unerklärlichkeit, eben im Geheimnis seiner selbst, Du und nur als Du Partner des Ich bleibt. Im Falle von Ich und Du freilich ist die Vorenthaltenheit der Partner ins Geheimnis ihrer selbst verschränkt mit der Gegenseitigkeit von Zu-denken und An-denken, die Partner zeitigen sich ineinander hinein, sind voneinander gezeitigt, sie sind sich ewig und zeitlich in einem, besser: sie sind sich nur in der Zeit ewig. Die Ewigkeit des allererst zeitigenden, nie zu zeitigenden Geheimnisses setzt hingegen Zeit gerade nicht voraus, sondern zeitigt sie allererst in die Eindeutigkeit ihres Richtungssinnes, und d. h.: in ihr Wesen.

[57] Die das Denken durch die Geschichte hin bedrängende Frage, wie das Unbedingte und Einzige das Andere seiner selbst sein lassen, wie die Möglichkeit seines Anderen als eines Anderen in ihm entspringen und zu ihm gehören könne, ohne daß es selbst dadurch aufhört, das Unbedingte und umfassende Einzige zu sein, erhebt sich darum fürs verdankende Denken nicht mehr. Die Konstruktion des „Anderen“ aus dem vom Selbstsein her verstandenen und vom Selbstsein des Denkens insgeheim sich selbst zugesprochenen Geheimnis der Anfänglichkeit aus ist überholt ins dankende Vernehmen, das sein eigenes Andenken dem Zudenken je gegenüber und nur als gegenüber sich eins mit ihm weiß. Denken selbst ist das Gezeitigte seines es stiftenden Ursprungs, ist das als Andenken überholbare Geschehen der Zeitigung, in der das schlechthin Andere des Denkens „geschieht“, sich zudenkt ins Denken und so zugleich sich zurückhält vom Denken.

Denken als gezeitigt aus seinem ihm entzogenen und so nur sich ihm eröffnenden Ursprung vermag Zeitigung gerade nicht umgreifend, in sich einbegreifend zu denken. Zeitigung ist nicht ein Begriff, in dem es den zeitigenden Ursprung und sich als Gezeitigtes in eine energetische Identität zusammengriffe und so sich über das in ihr geeinte einend und überblickend emporschwänge. Das als solches offene „Zuvor“ ist nur im Hernach diesem da, und das Hernach, welches das Denken ist, trägt sich nicht auf eine im Denken vermochte, von ihm aus ins Zuvor verlängerbare Linie ein, der entlang das Denken also doch sein Zuvor erklimmen und in sich setzen könnte. Sein ganz und gar unselbstverständliches Sein-dürfen und -sollen, sein unbegreiflicher und unerstellbarer Anfang mit sich selbst ist Sich-Empfangen, Empfangen seiner eigenen Anfänglichkeit, Totalität, Universalität und Helle. Diese ist unüberholbar eine je „zweite“, eben empfangene, nur in der alle Antwort übertreffenden Frage und ihrem sich verdankenden Verweis ins rein zeitigende „Zuvor“ hinein offen.

„Zeitigung“ als nur zum Gezeitigten hin und nicht von ihm zurückführend, als es berührend und gewährend, aber nicht von [58] ihm berührbar, als in ihm offenbar und doch nie in solcher Offenheit reproduzierbar ist hier nicht gedacht als Selbstgeschehen der Subjektivität, in dem sie das, was sie setzt, in sich und für sich und so sich selbst ihm voraussetzt. Zeitigung meint hier vielmehr das schlechthin anfängliche Sich-Zugekommensein der Subjektivität als einer solchen, das „Wunder“, dem alles Selbstsein als seiner Voraussetzung in sich selbst begegnet: Daß ich bin, daß ich sein soll und darf! Dieses Wunder des sich zugekommenen Selbstseins ist der radikale und konstitutive Fall des Augenblicks, in welchem das Denken innewird: Was ist mir geschehen? Es ist auf einmal alles anders! Solche „vertikale“ Zeitigung, deren Andenken das Denken als der Vollzug und die Helle des Selbstseins ist, verwandelt auch die „horizontale“ Zeitlichkeit, d. h. jene Zeitlichkeit, in der das Subjekt sich in seine Welt, seine Welt in sich hinein vollbringt: Auch sie hört auf, bloße Anschauungsform des Subjektes, bloßer Schematismus zu sein, der aus der Struktur des Subjektes resultiert, und wird zur Zeit der Augenblicke, in der das Subjekt nicht das Setzende, sondern das unverfügbar Gerufene, Antwortende, Verantwortliche ist.2

Zeitlichkeit ist nun nicht mehr auf die Gleichung dessen, was ist, mit sich selbst, nicht mehr auf die alles umgreifende Identität des Seins mit sich oder Denkens mit sich oder Denkens und Seins miteinander ein- und zurückzutragen. Diese Gleichung selbst, ihre alles, was ist, einbegreifende Geräumigkeit kommt sich zu aus dem Zudenken, dessen Andenken sie dem verdankenden Denken ist. Daß alles ist, was es ist, die Gleichung alles dessen, was ist, mit dem, was es ist und warum es ist, ist selbst irreversibel sich zugewendet, sich gewährt, als unverbrüchlich und „ewig“ verweisend auf die ihr entzogene „aktive“ Ewigkeit der zeitigenden Gewähr.

In dieser Zeitigung ereignet sich das Unterscheidende des Heiligen. Ewige Wahrheit, ewiges Gut, Unbedingtheit: solche Bestim- [59] mungen eröffnen die Qualität des Heiligen dem Denken noch nicht, solange sie Resultat der Analyse des Denkens bleiben, das dieses Resultat sich oder sich diesem Resultat einbegreift. Erst wo die Diskontinuität des Denkens mit sich selbst von Anfang an, wo sein sich gewährter Aufstieg aus dem Undenklichen offen und nicht als ein Zusatz zu dem, was Denken ist, sondern als das Wesen des Denkens selbst offen ist, wo Denken also seiner selbst als Andenken innewird, ist Denken an sich selbst betroffen und in der Beschenktheit und Geschuldetheit seiner selbst zugleich dem es schlechthin Unberührbaren gegenüber. Das Denken, das sein Gezeitigtsein erkennt und das sich als gezeitigt verdankend und verhoffend selbst übernimmt, gelangt vor den Aufgang des Heiligen, dorthin, wo sein undenkliches Woher und Wohin im Denken offen und darum ihm als Denken heilig ist. Seine Zeitigung selbst ist ihm der Aufgang des Heiligen.


  1. Erinnert sei an die geschichtliche Diskussion, ob die ewigen Wahrheiten aus der bloßen Willkür Gottes her oder ihr (und im Grunde so doch auch: dem metaphysisch verstandenen Gott selbst) zuvor aus seinem Wesen her gelten; in solchem Ansatz der Frage ist das „Verhältnis“, um das es hier geht, gleichwohl „vergessen“ (vgl. Leibniz, Discours de Métaphysique, cap. 1 und 2; auch Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Über die Quelle der ewigen Wahrheit, Werke XI, 575–590). ↩︎

  2. Vgl. das Zeitverständnis bei Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, B 46–66 / A 30–49 und B 176–187 / A 137–147, und beim jungen Schelling, System des transzendentalen Idealismus, III, 466ff. und 577ff. ↩︎