Ist das Konzil schon angekommen?
Auseinanderdriften von Evangelium, Kirche und Welt*
Während der letzten Jahrhunderte hat sich zunehmend, wenn auch in wechselnden Konstellationen und Konzepten, die Verbindung zwischen der christlichen Heilsbotschaft als tragender Glaubensüberzeugung, der Kirche als sie repräsentierender und vermittelnder Instanz und der Welt im Sinne der Gesellschaft und ihrer Kultur gelockert. Es ist faktisch zu einem Nebeneinander gekommen. Hier steht die Heilsbotschaft, die – in verschiedenen Kirchen, aber auch in verschiedenen Strömungen unterschiedlich interpretiert und von vielen nur noch selektiv wahr- und ernstgenommen – im allgemeinen Bewußtsein lebendig war, aber eben an Lebendigkeit, an einziger und ausschließlicher Gültigkeit erhebliche Einbußen im Gesamt der Gesellschaft erlitt. Dort steht die Welt als der zweifellos von christlichen Überlieferungen geprägte und beleuchtete Gesamtraum des Daseins, der indessen vom unmittelbaren, experimentierenden und berechnenden, forschenden und gestaltenden Zugriff des Menschen seine weitere Entwicklung erfährt, wobei mit dem Blick über die Grenzen des eigenen Kulturraums und mit der Auflösung seiner ideellen Einförmigkeit naturgemäß christlicher [56] Glaube nur noch als ein und nicht als der einzige Traditionsstrom wirksam bleibt. Und zwischen dem verblassenden, sich einerseits zerteilenden, andererseits verschließenden Block christlicher Glaubensüberzeugung und dem anderen Block der immer eigenständiger und auch ihrerseits vielgestaltiger werdenden Welt steht die Kirche. Von ihr selber her versteht sie sich als Repräsentanz und Vermittlung der Heilsbotschaft Christi, sich in Inhalt und Struktur von anderen Gestalten kirchlichen Lebens und kirchlicher Existenz abhebend und so in einen starken Druck der Selbstdefinition geratend; zugleich aber ist sie von der Welt her, von der Gesellschaft her eine der in ihr wirkenden Institutionen, so daß auch in ihrem Außenbezug, und zwar gleichermaßen in Anpassung wie im Widerstand, der institutionelle Charakter die Vorhand gewinnt. Grob gesprochen, stehen so die drei Blöcke nicht beziehungslos, aber doch mit deutlich unterschiedlichem Schwerpunkt nebeneinander: Evangelium, Welt, Kirche. Für die Kirche legen sich zwei Engführungen ihres Selbstverständnisses nahe, ohne daß freilich im dogmatischen Sinn diese Engführungen durchschlügen; aber nicht nur das dogmatisch Falsche, sondern auch der vital, unter noch so verständlichem Druck falsch gesetzte Schwerpunkt führt leicht in eine vitale Identitätskrise. Die eine der beiden Engführungen lautet nun: Kirche fragt sich, wie sie ihre Identität gegenüber der Welt und der Gesellschaft durchsetzt und durchträgt, wie sie damit die Identität ihrer Botschaft wahrt. Die andere Engführung lautet: Kirche fragt sich, wie sie bei der Welt ankommt, sich in Welt und Gesellschaft einbringt und somit auch die zu vermittelnde Botschaft ins Spiel bringt. Beide Fragen sind notwendig, aber eine allein genügt nicht, und wo die eine oder die andere oder wo auch diese beiden Fragen als solche das einzige oder doch Übergewichtige im Leben der Kirche werden, nimmt die Selbstreflexion der Kirche überhand und nimmt die Kirche als institutionelles Problem ihrer selbst überhand. Wenn entweder theologisch oder soziologisch sie institutionell als Vermittlungsorganismus funktioniert, erscheint das Entscheidende getan. Unser Dokument sagt aber, die Grundbotschaft des Konzils hervorhebend: Das Entscheidende ist dann gerade nicht getan.
[57] Zwei gewichtige Rückfragen stellen sich hier: Haben wir mit dem soeben entworfenen Bild die Kirche vor dem Konzil oder nicht vielmehr die Kirche nach dem Konzil skizziert? Anders gewendet: Sagt nicht gerade das Dokument der römischen Bischofssynode 1985, es habe die Rezeption des Konzils verhindert, daß Kirche nur einseitig institutionell verstanden worden sei? Antwort: Wo diese Kritik der Synode zutrifft, da ist eben das Konzil nicht bei der Kirche angekommen. Es ist eine falsche Konsequenz aus den Konzilsaussagen, entweder nur die Identität der Kirche als Institution zu schützen oder sie um der Nähe zu den wirklichen Verhältnissen willen aufzugeben oder auch einen Kompromiß zwischen beidem zu suchen. In den Aussagen des Konzils steht gerade etwas anderes, der innere Antrieb und Schwung des Konzils zielt gerade auf etwas anderes.
Die zweite Rückfrage: Ist es nicht in der Tat Aufgabe der Kirche, Vermittlung zwischen der Botschaft und der Welt zu sein? Muß sie nicht die Leidenschaft beseelen, das Evangelium zu wahren auch gegen den Strom und zugleich es zu vermitteln an die Menschen in ihrer Welt und mit ihrer Mentalität? Zweifellos. Aber dies geschieht nur, wenn die Kirche dies nicht bewerkstelligt durch Selbstverteidigung oder Selbstaufgabe, sondern wenn – wir stoßen vor zur Mitte – in ihr das Mysterium aufscheint und wirksam wird, das ihr anvertraut ist und das sie selber ist.