Grenzgänger der Transzendenz – eine Zielgruppe der Pastoral

Bedeutungswandel der Grenzsituationen

Jene Situationen, in denen der Mensch an die Grenze seines eigenen Gestaltens und Vermögens stößt, in denen ihm sein eigenes Dasein als Ganzes bewußt, weil entweder aus der Hand genommen oder neu in die Hand gegeben wird, jene Situationen, die ihm die Frage nach dem Sinn, dem Woher und dem Wohin des Ganzen existentiell aufdrängen, bestimmen zu allen Zeiten mit besonderer Dringlichkeit das Selbstverständnis und Selbstverhältnis des Menschen. Die Weise aber, wie sie das Selbstverständnis und Selbstverhältnis des Menschen bestimmen, ist geschichtlich verschieden akzentuiert. Zwar ist jeder einzelne jeweils als er selbst an seine eigene Grenze gestellt, und an dieser Grenze entscheidet sich seine Einmaligkeit, seine Persönlichkeit, die Gestalt, in die seine Freiheit aus sich selbst hineinwächst. Dennoch steht der einzelne auch hier nicht isoliert, nicht ohne das Erbe jener Welterfahrung und Weltdeutung, die seine Epoche prägen. Er ist bis ins ausschließliche Einmal seiner Lebens- und Todesentscheidung hinein nicht nur Selbstsein, sondern auch Mitsein.

Es wäre nun gewiß verkürzt, einfachhin von einer christlichen und einer nachchristlichen Epoche der Geschichte zu sprechen. Wie tiefgreifend auch die Umbrüche im Lebensverständnis einer Welt waren, die christliche Glaubensaussagen als Gemeingut kannte, kann einem auffallen am Umbruch der Bildwelt zwischen Spätantike und frühem Mittelalter – man denke nur etwa an die Ersetzung des thronenden Christus der Apsiden durch die Bilddarstellungen des Jüngsten Gerichtes. Gleichwohl macht es einen erheblichen Unterschied, ob der Tod [143] als Grenzpunkt zwischen Diesseits und Jenseits, Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeit und Ewigkeit verstanden wird oder ob Tod nur Abbruch und Ende bedeutet; anders gewendet: ob die Welt der unmittelbaren irdischen Erfahrung umspannt ist von übergreifenden Ordnungen oder ob der Bereich des Meßbaren, Berechenbaren fürs allgemeine Bewußtsein das Ganze und Letzte ist, Erwartungen und Erfahrungen hingegen, die diesen Bereich übersteigen, ins Sondergut des unverbindlich Privaten hineingehören.

Auch für uns Heutige noch läßt sich der Umschlag der Gesamtsituation des Geistes mit jener Existenzerfahrung markieren, die sich in den Pensées von Pascal niederschlägt: das Erschrecken des Menschen, der sich zwischen das unendlich Große und unendlich Kleine neuzeitlicher Erfahrung in eine haltlose Mitte ausgesetzt findet.1 Formelhaft gesagt: Der vorneuzeitliche Mensch erfuhr Grenze als Mitte – der neuzeitliche Mensch erfährt Mitte als Grenze. Er selbst tritt in die Mitte des Ganzen, bekommt mehr und mehr alles in seine Hand, steuert und entwirft seine Welt, aber diese seine Position insgesamt wird Grenzposition, wird Frage an ihn selbst, Fraglichkeit seiner selbst.

Dieser Prozeß hat seine Phasen. Die Einbürgerung des Menschen in die Mitte seiner Welt hob keineswegs damit an, daß als erstes das Bewußtsein des Jenseits gemeinhin ausfiel. Sicher, seit Anfang der Neuzeit wurde es immer neu möglich, die überkommenen Deutungen dessen, was über unseren unmittelbaren Erfahrungshorizont und seine Grenzlinie, den Tod, hinausreicht, in Frage zu stellen, umzuinterpretieren. Die Ohnmacht angesichts der eigenen Endlichkeit, der Überschuß des Unerklärten und Unbewältigten behielten indessen ein so lastendes Gewicht, daß die Gesellschaft nicht auf Instanzen für Grenzerfahrung und Transzendenz verzichtete. Aber das war es eben: Kirche und Christentum wurden mehr und mehr „privatisiert“, mehr und mehr Institutionen fürs Jenseits und seine diesseitigen Grenzgebiete. In dieser „Funktion“ fürs allgemeine Bewußtsein die Ratlosigkeiten angesichts unbeantwortbarer Fragen, die an den Grenzen aufstehen, „unschädlich“ zu machen, erschienen Kirche und Christentum geradezu als Komplizen jenes Systems, das die Welt handlich, beherrschbar, bequem, so aber flach und oberflächlich werden ließ.

Das unverkleisterte Bestehen der Grenzsituationen, die Auslieferung an den unbeschönigten Tod und die ungetröstete Sinnlosigkeit wurden zum Impuls unterschiedlicher Philosophien der Existenz. Sie richteten sich, zumindest teilweise, gegen christliche und kirchliche Traditionen, gegen ihr scheinbar sicherndes Bescheidwissen über die letzten Fragen. Rückwirkung auf die religiöse Einstellung: Verunsicherung einer konkreten, inhaltlichen Eschatologie, Verlagerung von der fides quae auf die fides qua.

Die existentielle Betonung der Grenzsituationen, in der Folge der säkularen Erschütterungen nach 1945 weithin in unserer Gesellschaft mächtig, ist zurückgetreten hinter einer anderen Entwicklung: Es ist, als ob der Ansatz der Neuzeit endlich zu seinem Recht gekommen sei, der Ansatz einer totalen Beherrschung der Welt und des Daseins durch das Können und Planen des Menschen. Die unge- [144] heuerliche Anstrengung, den Tod und alle negativen, bedrohlichen Mächte der Natur und der Geschichte zu überrunden, hat erstaunliche Erfolge gezeitigt. Die Grenzen des Daseins wurden immer weiter hinausgeschoben, die Grenzsituationen immer weiter an einen unerheblichen Rand verbannt und an diesem Rande in die Perfektion technischer Bemeisterung verpackt. Natürlich wird die weiter hinausgeschobene Grenze weder kleiner noch weniger gefährlich – aber der Streß der Anstrengung, die Grenze zu verlagern, läßt die Grenze selbst vergessen. Die Grenzsituationen stehen in der gesellschaftlichen wie kirchlichen Öffentlichkeit der sechziger Jahre mehr und mehr an der Grenze gegenüber einem Optimismus der Weltgestaltung und einer Theologie der irdischen Wirklichkeiten. Tod, Schuld und Schicksal, aber auch der zeichenhafte Verweis, etwa der Evangelischen Räte, auf eine Erfüllung, die sich nicht innergeschichtlich machen läßt, treten auch für Theologie und Pastoral in den Hintergrund, finden insgemein weniger Interesse und Verständnis. Der Mensch scheint es geschafft zu haben, sich in die Mitte zu schwingen und die Welt bereits oder wenigstens demnächst in seinen Griff zu bekommen.

Doch hier rühren wir an eine Bruchstelle zwischen sich ablösenden Phasen. Das Unbehagen am System, der protestierende oder träumende Ausstieg vieler in der jungen Generation aus der Konformität mit der Gesellschaft, wie er das Ende der sechziger und den Anfang der siebziger Jahre kennzeichnete, bestätigen es: Die Mitte, in welche der Mensch sich geschwungen hat, wird ihm selbst zur Grenze: nicht mehr Grenzsituationen des Daseins, sondern Dasein selbst als Grenzsituation! Der vielberufene Aufbruch der Sinnfrage stößt nicht in die Dimensionen des Hernach und Darüber, will sagen nicht in die Frage nach ewigem Leben und Jenseits. Nein, der Sinn soll sich jetzt ereignen, die Antwort soll jetzt gegeben werden, die Absurdität, die Sinnlosigkeit, der Leerlauf des bloß Klappenden und Funktionierenden verlangen nach der Wende, der Deutung, der Erfüllung, die nicht erst später erfolgen.

Es bleibt indessen nicht bei dem Ungenügen des Menschen an der Ohnmacht seiner gewähnten Allmacht. Diese gewähnte Allmacht selbst, der Traum der demnächst vollkommenen Welt und Daseinsbeherrschung beginnen höchst unsanft zu zerrinnen. Dasein ist nicht nur Grenze, sondern hat seine Grenzen – und diese Grenzen werden wieder spürbar. Und doch zeichnet sich noch nicht eigentlich ab, daß die Stoßrichtung der Frage wieder über die Grenzen hinauswiese. Die Grenzen lassen Ratlosigkeit zurück, wie angesichts ihrer das Dasein jetzt erfüllt und sinnvoll gestaltet werden könne. Es bleibt dabei: Sinn, Erfüllung, Antwort sollen sich jetzt schenken, jetzt ereignen. Der Himmel der Kinder und der Alten, der Kranken und der Frommen in den Klöstern ist nicht der Himmel über unseren Städten – oder hat dieser Himmel über unseren Städten jenen anderen in sich aufgesogen, haben die Kinder und die Alten, die Kranken und die Ordensleute ihren Himmel verloren?


  1. (Anm. d. Bearb.) Vgl. Pascal, Blaise: Pensées, ed. Brunschvicg, Fragm. 72. ↩︎