Gestalt als Zeugnis – zu Beethovens letztem Klavierstück*

Beethovens Musik als Erzählung*

Bevor ich diese Komposition aufschlüsseln und auch näher deuten will, möchte ich eine Grundhypothese über Beethovens Musik äußern, die ich nicht aus der Literatur, sondern allein durch meine dilettantischen Beobachtungen habe. Ich würde glauben, daß die Musik Beethovens in einigen sehr exponierten Stücken, [260] zu denen ich auch dieses „Allegretto quasi Andante g-moll“ zähle, auf etwas hinausläuft, was ich nennen möchte: nicht-gegenständliche oder absolute Erzählung.

Ich glaube, es gibt bei Beethoven drei, bei näherem Zusehen sogar vier Arten erzählender Musik. Es gibt zunächst die sachhafte Erzählung. Ich denke dabei etwa an den vierten und fünften Satz der Symphonie Nr. 6 F-dur op. 68 mit dem Beinamen „Pastorale“, in denen das Gewitter in die Hirtenseligkeit einbricht und uns anschließend der Dankgesang der Hirten vor Augen geführt wird. Es handelt sich um eine Ausdrucksweise, die in der Barockmusik sehr häufig vorkommt und uns ganz allgemein im Sinne von Programmusik oder erzählender Musik begegnet. Hier wird etwas mit musikalischen Mitteln geschildert, in gewisser Weise erzählt.

Dann gibt es bei Beethoven ganz gewiß eine zweite Form von musikalischer Erzählung, die Erzählung im indirekteren Sinn ist: bekenntnishafte Musik. Die 3. Symphonie Es-dur op. 55, die „Eroica“, und die 5. Symphonie c-moll op. 67 haben etwas von Bekenntnishaftem an sich, in denen Beethoven etwas erzählt, was ihn berührt hat und in denen er deshalb ein Stück weit sich selbst erzählt. Das aber tut er nicht darstellend im Sinn eines großen Porträts; vielmehr erzählt er etwas, was ihn erschüttert und was seine innere Konfrontation mit seinem Leben ausmacht. Diese Erzählung läßt sozusagen sein inneres Wesen in einiger Deutlichkeit Gestalt werden, und auch das wieder nicht im Sinne einer Programmusik, in der ich jetzt das eine auf das eine und das andere auf das andere deuten könnte, sondern so, daß im Gesamt dieser Darstellung eigentlich Beethoven selber als der von sich und seinem Schicksal Betroffene und der seinem Willen Gestalt geben Wollende spricht.

Dann gibt es eine dritte Gruppe von erzählender Musik bei Beethoven. Es ist jene Musik, die nicht mehr im eigentlichen Sinn etwas erzählt, sondern die das Erzählen erzählt oder einfach den erzählenden Grundton des Sprechens zum eigenen Inhalt macht. Ich bin zum ersten Mal durch eine Bemerkung von Eugen Biser darauf gestoßen, der darauf hinwies, daß in den „Bagatellen op. 33“ das sechste Stück in D-dur eine ganz interessante Überschrift trägt. Ich möchte dieses Stück nicht ganz vorspielen, aber [261] einige wichtige Teile daraus, und die Überschrift vorlesen: „Allegretto quasi Andante“, also dieselbe Überschrift wie bei unserem Stück, hier aber mit dem Untertitel „Con una certa espressione parlante“, „mit einer gewissen sprechenden Ausdrucksweise“. Hier der Beginn des Stückes:

Es ist das Einhaltende des Sprechens, das Betonende, das das Wort Weitergebende, Sich-Zurücknehmende, das dieses Sprechen als solches wirkt. Es ist dieses in sich Bewegte des Sprechrhythmus und des Verhältnisses zwischen dem Sprecher und dem Sprechen, das als solches erzählt wird und das nicht nur eine objektive Mitteilung ist. Ich habe den Eindruck, daß Beethoven mitunter eine Freude daran hat, den sprechenden Gestus, diesen Grundvollzug „Sprechen“ einfach als einen solchen darzustellen und nachzuahmen. Gerade als solche bleibt diese Musik noch ein Stück Programmusik.

Davon ist zuletzt eine vierte, für unsere Sache entscheidende Weise des Erzählens zu unterscheiden. Beethoven geht nämlich noch einmal über jede Art von Programmusik hinaus. In einer ganzen Reihe von Musikstücken geht es nicht mehr um den äußeren Gestus des Sprechens, sondern um die innere Dramatik des Erzählens selbst. Ich möchte dafür zwei kleine Beispiele geben, eines aus [262] op. 14 Nr. 2, den Anfang des 2. Satzes der G-dur-Sonate, ein Andante C-dur, bei dem etwas von der Art des Erzählens selbst deutlich wird, daß nämlich Erzählen in einem mit Unterbrechungen, mit Pausen regulierten deutlichen Rhythmus geschieht, in dem aber Verhaltenheit und Drängen mitenthalten sind, wodurch eine innere Spannung zum Ausdruck kommt, ohne daß – wie hier – ausdrücklich ein Sprechton intendiert ist. Dann ist für mich die gleichzeitig mit den schon genannten Bagatellen entstandene Sonate Es-dur op. 31 Nr. 3 besonders wichtig. Der erste Satz, schon dessen Anfangsthema, zeigt großartig, wie ein musikalischer Ausdruck nicht die äußere Sprechgestik imitiert, sondern das Geschehen des Sprechens selbst ohne eine Inhaltlichkeit. Hier gewinnt etwas Ähnliches wie Mitteilung als „Zugehen-auf“, „Sich-Zurückhalten-von“ und „Verweilen-bei“ musikalische Gestalt. Zunächst einmal nur der Anfang aus dem langsamen Satz, nur die erste Passage dieses Andante aus op. 14 Nr. 2:

[263] Was da zu hören ist, ist einfach ein gleichmäßiger Rhythmus, ein Schema der Zeit des Nachher und Vorher, in dem aber die Unterschiedlichkeit des Sich-Einbringens, des Sich-Selber-Beteiligens an diesem Rhythmus sozusagen ein Hindeuten, einen Ausdruck als solchen darstellt, in dem aber nicht etwas ganz Bestimmtes ausgedrückt ist, so daß ein Rätseln, was dieses oder jenes bedeuten soll, im Grunde töricht wäre. Diese Musik ist nicht nur der Gestus des Ausdrucks im Sinne einer Sprachimitation, ja sie ist überhaupt keine Sprachimitation, sondern das Geschehen der inneren Dynamik des Sprechens selbst: in der Zeit innestehen, aber zugleich Zeit gestalten, Zeit wiederholen, Zeit vollbringen, Zeit ballen, Zeit laden. Und indem ich solchermaßen Zeit gestalte, bringe ich mich selber ein.

Dies wird ganz besonders deutlich in der ohnehin als Umbruch seines Stils bezeichneten 1801/02 entstandenen Es-dur-Sonate op. 31 Nr. 3, deren Hauptthema ich nur andeute:

[264] Auch hier geht es darum, daß das Thema nicht thematisch abgewandelt und durchgeführt wird, sondern wie dieses quer zum Grundgefüge der Tonart stehende Überraschende der Mitteilung mit einem fremden Akkord zurückgenommen und wieder gebracht und dann in einen hämmernden Rhythmus eingebracht wird. Man kann hier eigentlich nicht mehr von einer klassischen Bearbeitung sprechen, wie man sie aus früheren Sonaten Beethovens oder von anderen Komponisten kennt. Zu beobachten ist vielmehr eine bestimmte Weise der Mitteilung und des Hineingehens in ein Erzählgeschehen. Dies kann auch an den rezitativischen Teilen der späten Sonaten gezeigt werden, etwa am langsamen Satz von op. 110 As-dur.

In einer anderen, potenzierten Art und Weise, die zunächst weniger unmittelbar Sprachgestus hat, finden wir dieses Entscheidende der Musik Beethovens geradezu internalisiert in unserem kleinen Klavierstück. Bevor ich in die Erzählung dieses Klavierstücks selber eintrete, ist noch folgende Vorbemerkung zu machen: Ich halte es für außerordentlich wichtig, daß Beethoven Bagatellen geschrieben hat. Die Bagatellen op. 33, op. 119 und op. 126 sind Stücke, in denen er sich von klassischen Formen löst. Es ist doch interessant, daß die Stücke, die ich Ihnen bis jetzt vorgespielt habe, mit Ausnahme der kleinen Bagatelle Sonatensätze sind. Sie sind also in die Sonatenform gegossen. Normalerweise greift der Komponist auf vorgegebene Formen zurück, z. B. auf Sonaten oder Fugen. Und in diesen vorgegebenen Formen gibt es auch so etwas Ähnliches wie einen Erzählgestus oder einen Erzählton. Aber diese werden eben in ein vorgefertigtes formales Gerüst eingefüllt, sei dies ein Tanz, eine Fuge oder ein Sonatensatz. Beethoven gestaltet diesen Satz zwar so, daß sich Neues ereignet, aber es geht oftmals nicht anders, als dabei gleichwohl das Sonatenhauptsatzschema, das aus Exposition, Durchführung und Reprise besteht, einzuhalten. Beethoven geht dann beispielsweise hin und verlängert die Coda am Ende eines Satzes dergestalt, daß trotzdem noch etwas Neues geschieht und man nicht nur darauf gefaßt ist, das, was in der Exposition kam, nur in einer anderen Tonart am Ende des Stückes nochmals zu hören. Aber insgesamt schließen sich hier ein Kreis und eine Gestalt.

In der Bagatelle ist er indessen nicht daran gebunden. Die Ba- [265] gatelle kann ganz anders enden. Hier wird die Form, die gerade auch bei den Bagatellen sehr schön ist, von innen her, vom Einfall geboren. Der Hörer ist also in die Spannung einer Erzählung mit hineingenommen: Wie geht es weiter? Er ist ausgeliefert an das, was hier auf ihn zukommt. Es tut sich hier die Chance einer neuen Mitteilung an ihn auf. Deshalb scheint mir die Form der Bagatelle von sich aus höchst geeignet für eine solche Erzählung in sich zu sein.

Unser kleines Klavierstück „Allegretto quasi Andante g-moll“ ist ganz genau so konstruiert. Es ist Erzählung an sich. Und so kommt es jetzt sehr darauf an, was diese Erzählung erzählt. Ich werde dem Stück keinen Inhalt unterschieben. Ich werde nur die Form analysieren und probieren, in den Elementen der Form jene Aussage sichtbar zu machen, die nicht über die Form hinausweist, eben Gestalt als Zeugnis.