Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters

Begegnung mit Jesus Christus

Wenige Fragen haben mich so tief getroffen wie jene, die ein Mitbruder vor einiger Zeit an mich stellte: „Was tun Sie konkret deswegen anders, weil Sie an Jesus Christus glauben?“ In der Tat, wie soll man durch mich zum Glauben an Jesus Christus kommen, im Glauben an Jesus Christus bleiben und wachsen; welchen Sinn und welche Strahlung hat mein Zeugnis überhaupt, wenn mir nicht anzumerken ist, daß Er das Warum meines Lebens ist? So unterschiedlich die Ausentsetzungen im Selbstverständnis und im Vollzug priesterlichen Dienstes und priesterlicher Existenz sein mögen, eines ist doch gewiß der gemeinsame Nenner, auch wenn dies allein als gemeinsamer Nenner noch nicht genügte: Priestersein hat mit Jesus Christus zu tun; der Priester ist einer, der Jesus Christus so tief begegnet ist, daß es sich für ihn „lohnt“, von diesem Jesus Christus her und für ihn dazusein, ihn zu bezeugen, um seinetwillen anders bei Gott und bei den Menschen zu sein. Ohne lebendige Beziehung zu Jesus Christus kann man nicht Priester werden und nicht Priester sein. Diese Beziehung ist für den Priester nicht im vorhinein eine andere als für jeden anderen Christen. Aber die uns Christen, uns Glaubenden gemeinsame und doch jedem Christen je einzeln eigene Beziehung zu Jesus Christus gerinnt in ihm not-[51]wendigerweise zu einer solchen Dichte, daß sich von daher Form und Inhalt seines Lebens und Lebenswerkes bestimmen. Es geht mir im folgenden nicht zuerst darum, das Besondere der Beziehung des Priesters als Priester zu Jesus Christus hervorzuheben, sondern mehr darum, die Beziehung zu ihm überhaupt, die Begegnung mit ihm überhaupt zur Sprache zu bringen. Ich glaube, das spezifisch Priesterliche muß gerade hier getragen und umfangen sein vom Verhältnis des Menschen und Christen zu Jesus Christus; ich bin gerade dann wahrhaft Priester und gut Priester, wenn meine Entscheidung für das Priestertum in erster Linie eine Entscheidung für Jesus Christus ist. Nicht weil ich Priester bin, muß ich eine besondere Beziehung zu Jesus Christus haben, sondern weil ich eine lebendige Beziehung zu Jesus Christus habe, kann ich Priester sein. Natürlich weiß ich, daß diese Beziehung in eine Krise geraten kann – und ich bleibe dennoch Priester, ja es ist gut, daß ich ein für allemal eben Priester bin. Aber ich kann im Grunde nicht zur Ruhe kommen, ehe nicht diese Beziehung zu Jesus Christus wieder heilt und, vielleicht in anderer Färbung und Gestalt, neu wird, echter, tiefer wird. Nochmals: Was tue ich anders, weil ich an Jesus Christus glaube? Ich möchte die Frage indessen nicht von der Ebene meines Tuns her angehen, sondern von Jesus her. Nicht ethisch, sondern vom Sein her. Ich frage: Was ist anders, weil es ihn gibt? Und von der anders gewordenen Wirklichkeit her wende ich dann den Blick zurück zu ihm selbst: zur Quelle, aus der das neue Licht in meine Augen und in meine Welt einfällt.