Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“

„Bergwerk des Glaubens“

Die letzte Bemerkung hat uns in das Bleibendste des Bleibenden, hat uns in die Herzmitte der Frömmigkeit des „Winter in Wien“ geführt.

Lassen wir uns nicht näher ein auf die vielen Anklänge und [118] Umspielungen dieses Geheimnisses im Gange des Buches, auf die Habsburger Krone als Dornenkrone (vgl. 15), auf die Reflexionen über den „Zahnwehherrgott“ an der Rückwand des Chores von St. Stephan, an welcher Reinhold Schneider die menschheitliche „Sehnsucht nach dem leidenden Gott, nach dem göttlichen Bruder in der Schmerzensgefangenschaft“ (58) liest, auf den Bild gewordenen Schmerz der drei Marien in Wiener Neustadt (vgl. 231), ja nicht einmal auf den fundamentalen Satz des Dichters: „Auf die Geschichtswelt gibt es zwei Antworten: das Märchen und das Kreuz. Damit ist gesagt, wo wir uns befinden“ (83). Das Weihnachtserlebnis Reinhold Schneiders in Wien mit der Pietà (vgl. 66) und der unterirdische Kalvarienberg von Eisenstadt, der zu Ende des „Winter in Wien“ wie ein Knotenpunkt immer wieder die Linien des Geschehens in sich versammelt (vgl. 206–209, 278, 281, 283), sollen uns genügen.

Nahen wir uns diesen beiden Aussagen in einer Besinnung auf ihren strukturalen Ort, auf ihren Stellenwert in der Konsequenz des Bleibens und des Auseinandertreibens der „Konstellation“. Wir dürfen uns an dieser Stelle einer Beobachtung erinnern, die uns bereits bei unserem ersten Blick auf die Frömmigkeit des „Winter in Wien“ beschäftigte: Wohin weist das Entgleiten der Frömmigkeit aus Frömmigkeit? Die Krypta (vgl. 79), der Laderaum des Schiffleins Petri (vgl. 241) gaben erste Antwort: ins Unten und Innen.

Gehen wir dieser Antwort aufs neue nach, versuchen wir, tiefer in ihre innere Gesetzmäßigkeit einzudringen. Wo Gott und Kreatur, Geschichte und Mensch sich ihrem Nullwert nähern, wo sie „gerade noch“ sind, da sind sie zu sich selber gesteigert, da sind sie zugleich auseinandergetrieben in äußerste Spannung. Aber diese Explosion ist zugleich Weg in eine neue Nähe des Entfernten. Wir bemerkten es schon: eigentümliche Gleichung zwischen den Polen, die „gerade noch“ sind, was sie sind, tut sich auf. Aber wo ist der Ort dieser Gleichung, wo wird sie mehr als nur ein formaler Vergleich? Die Antwort kann nicht konstruiert, sie kann nur erfahren werden. Und doch, wird sie erfahren, dann enthüllt sie einen „konstruktiven“ Sinn. Suchen wir zunächst einmal diesen. Der Ort, an welchem sich die Gleichung [119] der Pole ereignen könnte, wäre ihr Tod. Genau jener Tod, der sie entzieht, sogar sich entzieht und doch bewahrt, jener paradoxe Tod, der uns aufscheint in Reinhold Schneiders Gebet für die Toten im Angesicht des Zweifels an Unsterblichkeit. Der sterbende Gott, der sterbende Mensch, die sterbende Geschichte, die sterbende Kreatur. In der Geschichte, die auf eine atomare Katastrophe hinauszulaufen droht, ist die Kreatur vom Tode umwittert, hineingewoben in den Tod der Menschen. Umgekehrt ist Geschichte in ihren Gesetzmäßigkeiten hineingewoben in den Rhythmus des schrecklichen Gleichgewichtes zwischen Zerstörung und Bestand der Kreatur. Solche Vision Reinhold Schneiders hat uns bereits beschäftigt. Wie der Schmerz um Gott und Kreatur Reinhold Schneider in die Sehnsucht nach dem Tode treibt, ist ebenfalls angeklungen. Aber gibt es nicht noch eine andere Synthese, eine, die nicht nur Katastrophe oder passive Erlösung von Überlast wäre? Eben: der sterbende Gott. Jener, der Mensch und Kosmos, Gott und Geschichte nicht in triumphaler Gebärde des Könnens zusammenfaßt, sondern sich mit ihnen bis zum äußersten, bis in ihren und seinen „Nullpunkt“ hinein vereinigt. Jener, der dorthin geht, wo er von allen, vom Vater und der Welt, der Geschichte und den Menschen abgeschnitten ist, jener, dem alle entgleiten und der allen entgleitet. In solchem Entgleiten wird er zum sammelnden, vereinigenden, versöhnenden Ort des Ganzen. Noch einmal: Als spekulativer Gedanke der Allversöhnung im alles Nicht und alles Ende mitsterbenden Gott hilft solche Überlegung nichts. Der gedachte Tod ist der geflohene, der nicht bestandene Tod. Die vergossenen Tropfen der Todesangst am Ölberg, das Gebet um Verschonung vor dem Kelch, der Schrei der Gottverlassenheit aus dem 22. Psalm, das Ausbleiben des Wunders am Karfreitag, der Tag der Starre, der Karsamstag, der drei Tage dauert, das Vergrabensein im Grab sind die Siegelmarke des wirklichen, des gestorbenen, des gerade so und nur so heilbringenden Todes.

Er ist es, dieser gestorbene Tod, der Reinhold Schneider widerfährt als Weihnachtsgeheimnis und als Geheimnis des im Eisenstädter Kalvarienberg unterirdisch erlebten Karsamstags. „Der Heilige Abend ging gnädig, ganz ohne Schwermut vorüber“ (66); Hans Fronius hatte ihm das Blatt gebracht, das er [120] am Abend enthüllte: „Die Pietà, Klage ohne Trost um den in Todesfinsternis erlegenen Sohn“ (ebd.). „(I)n dieser Sicht schwindet das Bild Gottes immer tiefer in die Todesnacht, vereinsamt die Klage der Mutter zwischen unerbittlichen Felswänden. (Wo wäre sonst Hoffnung?)“ (ebd.). Und nochmals, im Blick auf das sieghaft starke alte Weihnachtslied „Er ist gewaltig und stark“: „Wir haben dieses Wort nicht und nicht seinen streitbar herausfordernden Jubel: uns bleiben die zwei Gestalten, die nicht überwunden werden können, an Weihnachten also die Pietà, die Vollendung der Menschwerdung, Gottes letzter Schritt in sein Geschöpf, in die Erdennacht“ (67). Dieser Schritt ins Unterste und Äußerste nimmt die Zweideutigkeit und Zwiespältigkeit nicht hinweg, die Abgründe sind nicht zugeschüttet, wenn der Herr sich in sie wagt. Auch in diesem Sinne gilt: „daß Heilige Nacht zur Karfreitagsnacht wird“ (68). Aber die Erstarrung, das Totsein, die letzte Konsequenz der Menschwerdung, die Wiederholung der Ohnmacht und Wehrlosigkeit des Kindes von Weihnachten im leblosen Körper auf dem Schoß der Mutter – das ist dennoch oder genau deshalb die einzige Hoffnung. Denn hier ist der zur Weihnacht Gekommene wahrhaft überall, wahrhaft bei allem angekommen, an der Grenze, an der alles auseinanderhaltenden und zugleich verbindenden letzten Station des Menschen, der Geschichte, der Kreatur, Gottes selbst.

Örtlich, in einer alle Biographie und Kosmologie und Geschichte umfassenden Geometrie des Gott- und Welttheaters ist der Punkt der Integration das Unten und Innen, das Unterirdische. Unter dem Boden, auf dem wir stehen, ruht ein Geheimnis. Es kann nur heilen, wenn wir es im Dunkel lassen. Bewegend beschreibt Reinhold Schneider den von Paul Esterházy zu Beginn des 18. Jahrhunderts errichteten Kalvarienberg: „zehn Kapellen und achtzehn Altäre, die durch Gänge und Treppen miteinander verbunden sind. Es ist eine von krassem Realismus ins Unheimliche transzendierende Gestaltenwelt, erfüllt von leidenschaftlicher Innigkeit, kühner Dramatik des Heilsgeschehens“ (207). „Es gab keine Rückkehr, keinen Ausweg ins Licht. Dies ist das Castillo Interior der großen Teresa, Wandel in heiliger Dunkelheit, Weltverzicht und unerschöpfliche Erfüllung“ (ebd.). „Das Christentum will ins Dunkel; denn das Dunkel ist Licht. Hüte [121] dich, der du eingehst in den Berg der Geheimnisse, in die funkelnden Schächte: Du hast mit der Welt nichts mehr zu tun; deine Heimat ist unter der Erde; du findest zurück zu den Ersten in die frühe Zeit, da das Christentum nur Ärgernis war und Geheimnis, ein Werk der Maulwürfe, weltumgestaltende Verborgenheit. (…) Später Zauberberg der Mystiker, schließe dich zu! Welche Verlockung, sich in die Beter hineinzuleben, die hier, im Bergwerk des Glaubens, zur Tiefe führen; die sich verloren an die Majestät des an den Säulenstumpf gefesselten Herrn, an Christus, den toten! Der Glaube, der zu Grabe fährt, mit Christus ins Grab, wird vielleicht auferstehn. Wir sind nicht allein an der Grenze des Abendlands, in Pannonien; wir sind an der Grenze überhaupt (denn oben geschieht nichts mehr als Untergang). Der Glaube hat nur noch diesen Weg: durch das Grab; sein Leben ist die geheimnisvolle, die unterirdische Agonie, sein Ort die Kapelle der Todesangst Christi“ (208).

Die Erfahrung des Eisenstädter Kalvarienbergs ist für Reinhold Schneider so stark, daß sie ihm zum deutenden Bild wird auch für anderes, für das Geschick der Monarchie, für das Vermächtnis Grillparzers (vgl. 278, 281). Und auf unsere Frage, was bleibe, weist zum Ende Reinhold Schneider selber mit einem Wink, der wie eine Antwort ist, hin auf diese unterirdische Glaubensburg: „Es ist alles, worum wir hätten bangen könne, geborgen im Bergwerk der Mystiker unter Vater Haydns Taktstock: Was wir in Wahrheit besitzen, was wir sind (denn wir besitzen nur, was wir sind), können wir nicht verlieren“ (283).