Eine Phänomenologie des Glaubens – Erbe und Auftrag von Bernhard Welte

Bernhard Welte und die phänomenologische Grundhaltung*

[102] „Darin liegt eine Grundentscheidung: sich die Erscheinungen in Dasein und Welt geben zu lassen, sie sich selbst aussprechen zu lassen. Die Sachen selbst! Das, was sie selbst von sich selbst sagen, d. h. zeigen!“[2] Was Bernhard Welte in diesen Sätzen über die phänomenologische Grundhaltung Martin Heideggers sagt, das gilt von seinem eigenen Denken. Welte – und dies ist ein kennzeichnender Grundzug seines Denkens – ist Phänomenologe.

Heideggers Aussage, die Phänomenologie bestehe darin, „das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen“[3] ist auch Weles Maxime. Sie ist es auf eigentümliche Weise. Diese geht auf in der Erinnerung an sein Lehren, Predigen, Sprechen, Sehen, Teilgeben an eigener Erfahrung: Er hat Menschen, ungezählte Menschen, hineingenommen in einen Weg des Sehens, hat sie vor die „Sache“ geführt, auf daß sie von sich her unverstellt sich auftue, hat Menschen hineingenommen in sein eigenes, in ehrfürchtiger Nüchternheit und Genauigkeit gewonnenes Verhältnis zu dem, was sich zeigt und gibt. Er hat Phänomenologie als ein Weggeleit des Sehens der anderen vermocht, und dieses lebendige Geschehen ist nicht weniger wichtig als die Resultate, zu denen es gerann; das Ereignis seines phänomenologischen Denkens ist nicht minder bedeutsam als dessen Ergebnis.

Vielleicht darf man die Aussage wagen: Weltes „phaenomenologia qua“ ist der Schlüssel und das Proprium zu seiner „phaenomenologia quae“. Sicher ist Phänomenologie als solche Weg, Methode, doch bei Bernhard Welte wird es entscheidend, daß diese Methode nicht nur nicht von ihrem Gegenstand abzulösen ist, sondern daß sie auch die Existenz dessen angeht und einbezieht, der da Phänomenologe ist. Und so wird der Phänomenologe als Phänomenologe Zeuge, Mitteilender, er bringt einen Prozeß des Miteinander-Sehens, einer Tradition des Sehens in Gang.

Die Assoziation der gebrauchten Ausdrücke mit den überlieferten theologischen der „fides qua“ und „fides quae“ läßt sich [103] nicht abweisen. Sie ist auch der Sache, um die es hier geht, nicht äußerlich. Für Bernhard Welte ist Phänomenologie des Glaubens mehr als eine interessante Anwendung und Ausweitung phänomenologischer Forschungsmöglichkeiten und -felder. Der Weg des Glaubens und die Sache des Glaubens stehen in einer inneren Nachbarschaft zur phänomenologischen Grundhaltung, die der Stil und Weg seines Denkens ist. Bernhard Weltes Angegangensein und Ergriffensein vom Glauben und seiner Sache drängt ihn zur Phänomenologie, seine phänomenologische Grundbegabung und Grundeinstellung verdichten sich von sich her zur Phänomenologie des Glaubens.

Es wäre gleichermaßen angemessen und lohnend, im folgenden zweierlei zu versuchen: Einmal müßte die sachliche Ernte des phänomenologischen Denkens von Bernhard Welte, zumal seiner Einsichten und Beiträge zu einer Phänomenologie des Glaubens, eingebracht werden, und seine Publikationen gäben reichlich Anlaß hierzu. Zum andern müßte die These belegt und verdeutlicht werden, daß für Bernhard Welte Phänomenologie und Glaube von innen her einander zugetan und zugeordnet sind. Zum Letztgenannten können die folgenden Ausführungen vielleicht einen ersten und noch vorläufigen Hinweis geben, das erste sprengte den Rahmen, der diesem Beitrag gesetzt ist. In der ihm nötigen Bescheidung liegt indessen auch eine Entscheidung: Die Erinnerung an die Weise, wie Bernhard Welte sah und sehen lehrte, soll der Leitfaden sein. An dem, was dem Hörer und Schüler widerfuhr, an dem Sehen, das ihm Bernhard Welte vermittelte, soll in einem ersten Teil ein Grundmodell phänomenologischen Vorgehens abgelesen werden. Er zeigt sozusagen Bernhard Weltes Phänomenologie im Spiegel dessen, was seine phänomenologische Erschließung vermittelte.

Im zweiten Teil soll dann freilich, scheinbar abgehoben von diesem Modell, in unmittelbarem Zugang eine Phänomenologie des Glaubens skizziert werden. So aber wird sich eine bedenkenswerte Entsprechung zwischen der Struktur phänomenologischen Vorgehens und der Struktur des Phänomens „Glaube“ zeigen. Die Erinnerung an Bernhard Welte, der verdankende Dank an ihn wird zugleich zum Versuch, die von ihm angestoßene Bewegung des Denkens mit ihm über ihn hinaus fortzusetzen.