Denken der Grenze – Grenze des Denkens

Bernhard Weltes Phänomenologie als in sich transzendierendes Denken

Bereits die Nachzeichnung der Genese jenes Gedankens, in dem Bernhard Weite die Grenze denkend, sein eigenes Denken denkt, hat uns den in sich transzendierenden Charakter seiner Phänomenologie vor Augen gestellt. Es muß in unserem Kontext genügen, solches immanente Transzendieren im Ansatz selber phänomenologisch nochmals zu vermitteln.

Phänomenologie lebt von der Beschränkung, von der Enthaltsamkeit, vom Ausschluß: nichts anderes, nur dieses! Der Abtrag von Vorurteilen und Beiläufigkeiten, die Wachsamkeit für alles, was im Denken sich meldet, um das Denken zu reduzieren in die reine Achtsamkeit, das ist sozusagen die Folie, innerhalb welcher das „Dieses!“ aufgehen, sich von sich selber her gewähren kann. Gerade so aber wird das „Dieses“ nur verständlich, indem es unselbstverständlich wird, in seinem Einmal und So aufgehend und betreffend. Reines Hinsehen ist zugleich Betroffenheit von dem, was es gewahrt. Dann aber nimmt sich im Aufgang des „Dieses“ das Nicht in solchen Aufgang, in solches Aufgehende hinein. Genau besehen, kam das Nicht bislang zweimal vor: einmal im Hinsehen, das alles, was nicht lauteres Hinsehen ist, ausschließt, zum anderen im Gesehenen, das aufgeht und das als Dieses eben dieses und nichts anderes ist, also abgehoben und ausgeschlossen wird von dem, was es nicht ist. Nun aber bringt das Aufgehende, das Dieses von innen her dem Hinsehen es als sein eigenes Wunder zu: Daß es so etwas gibt und Nicht nicht gibt! Ein drittes, entscheidendes Mal also: Nicht.

Und hierbei ist gleich dreierlei erstaunlich: die Gegebenheit dessen, was sich da gibt; das Was, das in solcher Gegebenheit aufleuchtet; die Einheit solchen Was mit seinem Daß. Solches dreifaltige Wunder, in welchem Daß, Was und Einheit beider als ein je Dieses sich vom Nicht abheben, spielt in allem, was sich zeigt, wenn auch auf je unterschiedliche Weise. Es spielt in der Hinfälligkeit und doch Stabilität des je konkret Gegebenen, Kontingenten; es spielt im Aufgang reiner Gestalten und Wesenheiten, die in solchem Aufgang ja auch so etwas wie eine, wenn auch „ewige“, Gegebenheit uns vor Augen stellen; es spielt in jenen Grenzerfahrungen, die fraglich, kostbar, [23] schrecklich, beglückend, großartig werden lassen, daß überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts.

So aber wird alles, was dem zusehenden Denken sich zeigt, zugleich es selbst und Verweis über sich selber hinaus. Selber sein und verweisen, das wird zu zwei Seiten eines und desselben. In allem, was sich zeigt, ereignet sich in der Epiphanie des je Eigenen die Epiphanie des je Anderen, je Größeren. Einung und Unterscheidung begeben sich zugleich. Bescheidung und Beschränkung einerseits und Überschritt über die Schranke, indem sie berührt wird, Aufbruch über die Grenze, indem das Denken an sie stößt, andererseits geschehen in einem. Sie können aber gerade darum nicht ineinander hinein nivelliert werden. Das Nicht im Dieses und zugleich das Ecce im Nicht, dies ist die innere Dynamik in einem jeden Phänomen. Ein auf solche Phänomenalität achtendes Denken, eine solche Phänomenologie werden zum in sich selber transzendierenden Denken.

Sosehr solches Denken von Anfang an sich transzendiert, so sehr ist das Geschehen des Transzendierens zum gewährende Anderen je Ereignis. Es ist immer überraschend, neu, spannend wenn im Zulauf auf die Phänomene in ihrer eigenen Mitte die Umkehr in jenes geschieht, was sich in ihnen vorenthält un doch sie gewährt. Daß in den Grenzen Grenze waltet, daß im Walten von Grenze sich der alles gewährende und fügende Anfang auftut, das ist im Gedanken Bernhard Weltes und in unserem Mitdenken mit ihm unabsehbare Dramatik, so sehr im nach hinein aus dem Ereignis des Transzendierens her deutlich wird: Nur so geht es und nicht anders! Dies zu vermerken, ist für de Charakter der Phänomenologie Bernhard Weltes von höchstem Belang.

Sie geht nicht zeitlos, sondern sie braucht den Durchbruch ins Unversehene. Wenn er aber gelingt, dann gelingt er als Geschenk. Sosehr Denken auslangt über alle Begrenztheiten, sosehr ist das Rühren an die Grenze doch Berührtwerden von einem Grenzenden und darin Gewährenden. Alle Phänomenerfahrung wird Grenzerfahrung, Grenzerfahrung selber aber widerfährt in einem Transzendieren, das zuerst und mehr die reziproke Transzendenz, die Transzendenz von Seiten des in der Grenze begrenzenden und so gewährenden Geheimnisses bedeutet. Was von Anfang an ruft, was von Anfang an hinlenkt zum Hinsehen, das ruft von Anfang an auch zum Umkehren, [24] um im Geschehen solcher Umkehr je neu und je anders, unberechenbar und unverfügbar sich selber umzukehren, her zum gewahrenden Denken.

Die Tugenden des Sehens, Geduld, Behutsamkeit und Mut, gewinnen so einen tiefsten Grund: Geduld läßt sich ein auf eine Zeit, die nicht im Verfügen bestimmt werden kann, sondern Gewärtigkeit für das Ereignis ist. Behutsamkeit ist jenes Verdanken, das in allem die Gabe erwägt und nichts von der Gabe vernachlässigt, ihre Zeit ist der je neue Augenblick. Mut wird zur Antwort, die sich selber und ihre Sicherheiten losläßt und auf das rufende Wort hin sich über die unüberschreitbare Grenze hinauswagt. So aber wird deutlich: Die in diesen Tugenden ihren Weg gehende, dem Ruf folgende und seiner gewärtige Phänomenologie läßt, zum Seienden hingehend und im Seienden über es hinausgehend, Sein und Nicht hinter sich und rüstet zu für die Begegnung mit dem göttlichen Geheimnis.