Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters

Berufung

„Der junge Samuel versah den Dienst des Herrn unter der Aufsicht Elis. In jenen Tagen waren Worte des Herrn selten; Visionen waren nicht häufig. Eines Tages geschah es: Eli schlief auf seinem Platz; seine Augen waren schwach geworden, und er konnte nicht mehr sehen. Die Lampe Gottes war noch nicht erloschen, und Samuel schlief im Tempel des Herrn, wo die Lade Gottes stand. Da rief der Herr den Samuel, und Samuel antwortete: Hier bin ich. Dann lief er zu Eli und sagte: Hier bin [27] ich, du hast mich gerufen. Eli erwiderte: Ich habe dich nicht gerufen. Geh wieder schlafen! Da ging er und legte sich wieder schlafen. Der Herr rief noch einmal: Samuel! Samuel stand auf und ging zu Eli und sagte: Hier bin ich, du hast mich gerufen. Eli erwiderte: Ich habe dich nicht gerufen, mein Sohn. Geh wieder schlafen! Samuel kannte den Herrn noch nicht, und das Wort des Herrn war ihm noch nicht offenbart worden. Da rief der Herr den Samuel wieder, zum drittenmal. Er stand auf und ging zu Eli und sagte: Hier bin ich, du hast mich gerufen. Da merkte Eli, daß der Herr den Knaben gerufen hatte. Eli sagte zu Samuel: Geh, leg dich schlafen! Wenn er dich (wieder) ruft, dann antworte: Rede, Herr; denn dein Diener hört. Samuel ging und legte sich an seinem Platz nieder. Da kam der Herr, trat (zu ihm) heran und rief wie die vorigen Male: Samuel, Samuel! Und Samuel antwortete: Rede, denn dein Diener hört“ (1 Sam 3,1–10).

Heilsgeschichte ist Rufgeschichte

Wenn ich eine Geschichte höre oder lese, so frage ich mich oft nach der Gegengeschichte. Die biblische Gegengeschichte zur Berufung des Samuel steht, so scheint mir, ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte: Adam hat gesündigt. Er verbirgt sich vor Gott, und Gott ruft ihn: „Adam, wo bist du?“ (Vgl. Gen 3) Adam aber kommt nicht aus seinem Versteck, sondern er zieht sich zurück, er will dem ihn entdeckenden und fordernden Ruf entgehen. Die Geschichte mit Adam ist also keine Berufungsgeschichte – und ist es doch. Sie ist Geschichte mit einer Berufung, die zerbrochen ist. Ja, die Erschaffung des Menschen schloss eine Berufung in sich. Nun aber, da der Mensch sich nach seinem eigenen Plan und Willen sein Leben gegen Gottes ursprünglichen Ruf zurechtmacht, kommt diese Berufung über ihn wie ein Gericht. Und dabei hatte diese Berufung dem Menschen den Weg eröffnen wollen, auf dem Gottes Ruf Weg auch für die anderen, Weg zu den anderen aus Gottes Ruf wäre. [28] Der Mensch ist gerufen, indem er geschaffen ist. Dies ist das Eigentümliche, Besondere an ihm, an seiner Erschaffung: gerufen sein. Alles, was ist, hat Gott ins Dasein gerufen. Aber dieser Ruf Gottes wird im Dasein der Dinge, der Pflanzen und Tiere nicht offenbar, er kommt nicht als Ruf an. Er wird nur blind, stumm und taub durch das Dasein dessen ausgeführt, was nicht selber verlauten, nicht selber antworten kann. In Adam aber ruft Gott ein Wesen so, daß er selbst als der Rufende ihm offenbar wird und daß darin der Ruf offenbar wird als der Sinn und das Fundament des Daseins für den in dieses Dasein Gerufenen. Der Gerufene hebt inmitten der Welt den rufenden Gott selber ins Bild, ins Licht, in die Offenbarkeit. Leben heißt: dasein im Angesicht dieses Gottes und von Gott her selber, als ein Selbst, dasein. Hier verbirgt sich ein Paradox: Da entsteht ein Wesen, das seiner selbst mächtig ist, ein Wesen, das Gott ähnlich ist und entspricht, indem es selber sprechen, ich sagen, sich in die Hand nehmen kann – aber die Höhe und Würde dieses Selbstseins erfüllt der Mensch nur, indem er gerade nicht sich auf sich selber stellt, sondern der Hörende, der Antwortende, der Gehorsame wird. Beides geht nur gleichzeitig auf: gerufen sein und in Freiheit selbst sein. Den Menschen, der nur sein Ich, nur sein Selbersein leben will, der von sich aus sein will wie Gott, zerbricht der Ruf. Er hält Gott nicht mehr aus, versteckt sich vor Gott und vor sich selbst. Ruf und zerbrochener Ruf, das steht am Anfang der Menschheitsgeschichte. Aber die Heilsgeschichte ist mit dem Fall Adams nicht zu Ende. Und dann entspricht es der inneren Logik, daß sie insgesamt Berufungsgeschichte ist. Wir können im Alten Testament in allen Etappen dem Menschen nachgehen, der seine Geschichte mit Gott hat, und immer wieder werden wir ihn [29] entdecken als einen Gerufenen. Immer neu macht Gott Anläufe, um dieses Nein des Menschen zu seinem Ruf aufzubrechen, um seinem Rückzug auf sich selbst eine Wende zu geben, hin zur Begegnung, um ihn herauszuholen aus seinem Versteck hinter der Fassade der eigenen Selbstherrlichkeit oder in der Grube der Hoffnungslosigkeit. Es geht Gott darum, daß sein Ruf bleibe und so der Mensch bleibe, der Mensch als Gerufener und Antwortender. Gerufen sind Noach und Abraham, Mose und Samuel, Saul und David; Prophetengeschichte ist Berufungsgeschichte. In allen diesen Gestalten will Gott der Geschichte der Menschheit und der Geschichte Israels einen neuen Anfang, einen neuen Sinn geben: Mensch sein aus Gottes Ruf.

Verschiedene Momente im einen Ruf

Die Geschichte der Berufung weist in sich selbst eine unabschließbare Fülle auf, Gott wiederholt sich nie; jeder Gerufene – und dies heißt in letzter Konsequenz: jeder Mensch – hat seine eigene Rufgeschichte. Und doch fällt uns an dem sichtbar und herausragend Gerufenen der Heilsgeschichte eine gemeinsame Grundstruktur der Berufung auf. Gott ruft zu sich, er ruft den Menschen über sich und über das hinaus, worin er sich, auf sich selbst gestellt, festzumachen und zu erschöpfen droht. Wir können da vier Grundmomente beobachten, die in mannigfacher Spielart doch Berufung insgesamt kennzeichnen. Das erste Moment: Verlaß deine Habe! So heißt es ausdrücklich oder hintergründig immer. Sei bereit, deine bisherigen Verhältnisse aufzugeben, löse dich von dem, woran du hängst. Laß es hinter dir und wage den neuen Anfang. Immer ist der Schnitt notwendig zwischen mir und meiner [30] Welt, die ich mir eingerichtet habe, damit ich nicht mehr nur nach meinem Mögen und Brauchen, sondern nach dem Maß dessen, wozu Gott mich braucht, mein Haben und Benutzen der Dinge orientiere. Aufbrechen, hinter mir lassen, weglassen dessen, was ich habe und worauf ich einen Anspruch zu haben glaube, woran ich mich gewöhnt und woran ich mich gebunden habe: solches Verlassen der Habe gehört dazu, daß ich im Ernst mich einlasse auf Gottes Ruf. Das zweite Moment: Genauso gilt es immer, meinen Willen und meine Zeit an den Ruf freizugeben. Ich muß mein Lebenskonzept verkaufen, ich kann nicht mehr sagen: Ich möchte da oder dort hingehen, sondern es wird mir zugeworfen, zugespielt, zugesagt, wofür ich nötig bin. Ich suche, unter Gottes Ruf lebend, mir nicht das aus, was ich gern möchte, vergleiche es nicht mit anderen Lebenskonzepten, sondern ich werde von Gott in Anspruch genommen. Ich laufe von mir weg ihm nach. Ich habe den Schnitt zu tun nicht nur zwischen mir und meiner Habe, sondern den viel tieferen noch zwischen mir und meinem Willen, zwischen mir und mir. Ich lebe nicht nur in neuen Verhältnissen, ich lebe neu, erhalte neu zugewiesen, wer ich bin. Ich verwirkliche mich, indem ich mich entwirkliche und aus dem Grund aller Wirklichkeit, aus dem mich erschaffenden Ruf Gottes neu empfange. Nicht nur eine eigentümliche Armut, auch ein eigentümlicher Gehorsam gehört elementar zur Berufung durch Gott. Das dritte Moment: Ich selber soll mich mitbringen, und dieses Ich ist nicht nur mein Wille, sondern meine ganze Existenz, bis hinein in den Leib. Berufung beansprucht immer auch meinen Leib, wenn auch auf recht unterschiedliche Weise. Ich muß mich nicht nur von Ideen lösen, sondern ich muß einen Weg unter die Füße nehmen. Ich muß nicht nur etwas wollen, sondern mit meinen Händen etwas tun. Und schließlich: der Leib als Organ meiner Liebe, als die [31] Mächtigkeit meiner Zukunft, einer Zukunft, die über mich hinausweist in kommende Generationen, mein Leib in seiner geschlechtlichen Kraft; Liebe zu geben und Leben zu geben, ist betroffen vom Ruf. Wo aus menschlicher Beziehung der Liebe Zukunft erwächst, die nicht ein Es ist, sondern ein Du, da berühren wir in der Tat die innigste Nähe des Menschen zu dem, dessen Bild er ist: zum rufenden Gott. Den anderen liebend beim Namen zu rufen und mit dem anderen eine Zukunft ins Leben zu rufen, die selber einen Namen hat: dies ist in einer Anthropologie des Rufes unausweichlich ein besonders entscheidender und empfindlicher Punkt. Und so ragen denn jene Mütter der Heilsgeschichte als besondere Zeichen menschlicher Berufung auf, die aus erstorbenem Schoß durch Gottes Ruf dem Volk seine Zukunft in jenen schenken, die der Herr als Propheten und Boten dieser Zukunft rufen will. Sara (Gen 18 und 21), die Frau des Manoach, die Mutter Simsons (Ri 13), Hanna (1 Sam 1), Elisabet (Lk 1) seien hier genannt. Noch ein viertes Moment: Immer ist Berufung dazu da, daß Gemeinschaft neu werde, Gemeinschaft gegründet werde. Nie ist einer für sich berufen, sondern immer geschieht Berufung für den Dienst an den anderen, am Ganzen. Gott beansprucht Menschen für sich, indem er sie beansprucht für sein Volk, für die anderen. An Gott verschenktes Haben, an Gott verschenktes Verfügen, an Gott verschenkte Leibhaftigkeit, an Gott verschenkte Einsamkeit zum Dienst und Aufbau der Gemeinschaft: dies zeichnet den Grundriß der Berufung, in welcher der Glaubende sozusagen den ursprünglichen Ruf und Plan Gottes in der Erschaffung des Menschen einholen soll. So ist alle Rufgeschichte auf Adams verlorenen Ruf rückbezogen. Was aber in solchem Ruf geschieht, das ist immer: neuer Anfang. Wo Gott ruft, da geht es nicht einfach weiter, da werden nicht einfach Bedürfnisse abgedeckt, sondern da [32] wächst neues Leben. Und es geschieht nicht eine durch Gottes Eingriff allenfalls verstärkte und begünstigte Konsequenz mitgebrachter Möglichkeiten des Menschen, sondern es geschieht das Verschenken der mitgebrachten Möglichkeiten, die Annahme der eigenen Grenze aller Möglichkeiten, damit Gott das menschlich Unmögliche wirklich werden lassen kann. Ruf hat es wesenhaft mit dem Gott zu tun, der aus dem Nichts das Etwas schafft. Im Ruf verknoten sich Schöpfungsgeschichte und Heilsgeschichte.

Jesu Geschichte ist Rufgeschichte

Alle Linien menschlicher Rufgeschichte laufen zusammen in einem Punkt: in jenem „absoluten Zwischen“, das uns als der Ort des Gekreuzigten und Auferstandenen, als der Ort des Paschageheimnisses begegnete. Nach dem Hebräerbrief spricht Jesus bei seinem Eintritt in die Welt: „Schlacht- und Speiseopfer hast du nicht gefordert, doch einen Leib hast du mir geschaffen; an Brand- und Sündopfern hast du kein Gefallen. Da sagte ich: Ja, ich komme – so steht es über mich in der Schriftrolle –, um deinen Willen, Gott, zu tun“ (Hebr 10,5–7; vgl. Ps 40,7–9). Jesu Existenz ist vom innersten Anfang bis zur äußersten Vollendung verdichtete, in ihre Radikalität hinein erhobene Rufgeschichte. In der Buchstäblichkeit seines Lebens wie in der theologischen Deutung, welche es im Neuen Testament selbst gewinnt, ist er, der Gesalbte und Gesandte, der vom Vater Gerufene und ihn Rufende, schlechterdings der Arme. Er läßt seine Gottesherrlichkeit und entäußert sich (Phil 2,6f); er, der reich war, ist unseretwillen arm geworden (2 Kor 8,9). Er ertastet sein Leben Augenblick für Augenblick aus dem Willen des Vaters, er ist der „Gehorsame bis zum Tod“ (vgl. Phil 2,8) schlechthin. In ihm ist der göttliche Bräutigam da, der seinem [33] Volk Hochzeit hält und mit seinem Blut am Kreuz sich seine Braut erwirbt und Vater der Vielen wird (Joh 1,36; 2,19–21; Eph 5,2; 2 Kor 11,2). Er ist als Auferweckter der Erstgeborene von vielen Brüdern (Rom 8,29). Doch diese Lebens- und Wirkgeschichte Jesu und ihre elementare Deutung in der neutestamentlichen Theologie stellen nicht nur eine Steigerung, einen Komparativ zu allen anderen Rufgeschichten dar. In Jesu Rufgeschichte geschieht Erfüllung und Umkehrung, Umkehrung als Erfüllung aller anderen Rufgeschichten. Denn der da den Ruf Gottes bis ins Innerste und Äußerste hinein lebt und erfüllt, er ist nicht nur der Gerufene, nicht nur der Antwortende, sondern er ist der Ruf, er ist das Wort selbst. In ihm ist alles geschaffen (vgl. Joh 1,3). In ihm ist der Mensch gemeint und gerufen. Er ist es, der Plan und Urbild der Schöpfung, des Menschen, der Geschichte ist. Er ist nicht nur der Logos, das Wort Gottes im Sinn der ewig in sich ruhenden Vollkommenheit des sich in ihm beschauenden und besitzenden Gottes, er ist zugleich die Öffnung nach außen, er ist Wort als Antwort in Gott und Ruf Gottes über Gott hinaus, Ruf, der uns sein läßt und unser Sein trägt, bemißt, vollendet. Das Wort ist Fleisch geworden, das heißt: der Ruf ist Fleisch geworden, der Ruf ist Antwort, menschliche Antwort geworden. Ja, Jesu Leben und Sterben ist ganz unsere Geschichte. Er hat uns übernommen, trägt uns, er gibt von uns her, aus einem menschlichen Herzen, die Antwort, die wir nicht gegeben haben. Aber er kann sie nur wahrhaft an unserer Stelle geben, weil in ihm diese unsere Freiheit geschaffen und getragen ist. Keiner kann unsere Freiheit von innen her verwandeln als nur der, der sie ins Dasein, in die Freiheit gerufen hat. In seinem Kreuz erstrahlt der Ruf in seiner dreifältigen Richtung: Ruf nach außen, in die Welt; Ruf empor, zum Vater; Ruf in die Mitte, zur Gemeinschaft.

[34] Rufgeschichte ist Nachfolgegeschichte

Gott selbst vollendet in Christus die menschliche Rufgeschichte und erlöst sie, so daß sie Antwortgeschichte wird. Seit Jesus gekommen ist, heißt Rufgeschichte Nachfolgegeschichte. Wir folgen unserem Ruf, indem wir Jesus nachfolgen. Und diese Nachfolge ist zwar ganz und gar die Sache unserer Freiheit, unserer Antwort, aber sie ist dennoch mehr als bloß unsere Tat und unser Vollbringen. Jesus nachfolgen heißt: sich in ihn hinein fallen lassen, sich von ihm tragen lassen, sich ihm anvertrauen. Wir dürfen in ihm sein und ihn in uns sein lassen. Ruf ist nicht mehr niederdrückende Überforderung, sondern verwandelte, erlöste Unmöglichkeit. Der Weg, sie verwandeln und erlösen zu lassen, ist freilich der Weg der Gemeinschaft mit Jesus, des Vertrauens zu ihm und Lebens mit ihm. Dies heißt in letzter Konsequenz: Weg der Berufung ist Kreuzweg. Jesus selbst läßt uns nicht im unklaren darüber: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mt 16,24; vgl. Mk 8,34; Lk 9,23). Dort, wo er sich für mich und mich selbst in sich dem Vater darbringt, dort, wo er mir in meine äußerste Fremde und Ferne zu Gott entgegenkommt, dort, wo er meine Einsamkeit in sich hineinnimmt und mich in seinem Herzen mit allen verbindet, dort bin ich angerufen: Komm, laß dich mir, lebe in mir! Ausgespannt am Kreuz, ist er für mich der Ruf. Und diesen Ruf annehmen, das heißt gewiß mit ihm hinübergehen nach Ostern, aber dieser Weg nach Ostern hat eben die Erstreckungen und Richtungen, die wir am Kreuz ablesen. Er ist am Kreuz nicht nur Ruf an mich, sondern er ist schon meine gelebte Antwort, und ich kann sie nur mitleben, ich kann sie nur mir zu eigen machen, indem ich mir die Richtungen und Schritte seines Weges nicht erspare: Ich bin gerufen zum Vater; ich bin gerufen für die Welt; ich bin gerufen [35] in die Gemeinschaft. Es gibt keinen Ruf, der nicht mein Herz für Gott allein versiegelte, es zugleich auslieferte an die Welt und hineingäbe ins Miteinander der Heraus- und Zusammengerufenen, der Ekklesia. Die drei Richtungen des Kreuzes- und Ostergeschehens fordern jeweils die vierfältige Bereitschaft heraus, die seit den Tagen der Väter und verdichtet in Jesus Christus selbst zu jeglichem Ruf gehört. Ich bin gerufen mit Jesus zum Vater. Nur mit leeren Händen bin ich frei für diesen Aufstieg. Nur im Horchen Augenblick für Augenblick finde ich den Tritt, ich habe mich selber zu ihm mitzubringen, in der lautersten Hingabe des Herzens und des Leibes. Und ich trete nicht für mich allein vor den Vater hin, sondern für die andern. Sie sind in mir. Und genauso braucht es – in der Dimension des Rufes nach außen und innen – die Freiheit von allem Ballast des Habens und Anspruchs, um dort bei den anderen, bei den Letzten und Fernsten zu sein, wohin Jesus gegangen ist. Aber dieser Weg ist nicht ein Abenteuer auf eigene Faust, er gelingt nur im ständigen Hinhören auf ihn, ich kann nicht in großer Gebärde mich selbst entäußern, ich kann nur mich entäußern lassen; ich bin erst ganz frei zu den andern, wenn mich dabei Schritt um Schritt das Seil seines Willens hält. Und um mich allen zuzuwenden, muß mein Herz verankert sein in Gott allein, bereit zum immer neuen Abschied und immer neuen Weitergehen. Nur so werde ich in lauterer und ganzer Liebe mich selber, mit Leib und Seele, mitbringen zu denen, wohin sein Wille mich schickt. Ich werde aber zu ihnen nicht kommen als einer, der nur etwas zu bringen und zu geben hat, sondern ich werde ihnen Bruder sein, so daß Gemeinschaft wachsen kann, Gegenseitigkeit. Von den Rändern, aus der Welt, aus der Zerstreuung ruft Gott sein Volk zusammen. Der Ruf zum Herrn ist schließlich Ruf zum Herrn in der Mitte der Vielen, Ruf zueinander, in die Einheit des einen [36] Leibes. Arm sein ist hier nicht mehr nur persönliche Bedürfnislosigkeit, sondern jenes Teilen des Inneren und Äußeren, aus dem wahrhaft Gemeinschaft wächst. Gehorsam ist nicht nur Hören auf die Stimme Gottes in mir, sondern auf die Stimme Gottes, die durch den Bruder neben mir auf mich zukommt, die im Ganzen der Gemeinschaft erklingt. Die Reinheit des Herzens im Leben und das Verschenken der Leibhaftigkeit erbauen und bezeichnen den einen Leib, der wir miteinander sind, den heiligen Tempel, in dessen Mitte der Herr selber wohnt, die dichteste Nähe zueinander, die in der vorbehaltlosen Nähe zum Herrn allein gerade gewährleistet wird. Gemeinschaft fügt sich aus diesen Elementen verschenkten Habens, verschenkten Willens, verschenkter Leibhaftigkeit – aber sie fordert noch ein Mehr, sie fordert jene Liebe, ohne die alles tönendes Erz und klingende Schelle wäre (vgl. 1 Kor 13,1).

Alle sind gerufen

Jesus ist am Kreuz der neue Adam. Die neue Rufgeschichte der Menschheit fängt an. Die gesamte Menschheitsgeschichte wird vom Kreuz her nochmals geschrieben. Der neue Adam hat die Schuld des alten auf sich, aber er versteckt sich nicht vor Gott, sondern er schreit diese Schuld der Menschheit hin zu dem Gott, der dieser Schuld wie abwesend, wie versteckt erscheint. Der verlassene Gott wird zum entzogenen Gott des verlassenen Menschen. Aber diese Gottferne selbst wird zum Ruf an den neuen Adam: Adam, wo bist du? Und im Tod löst sich in letzter Konsequenz sein erstes Wort ein: „Ecce, adsum!“ – „Siehe, da bin ich!“ Der neue Adam – in Jesus ist die Menschheit gerufen. Mensch sein heißt aufs neue und wunderbarer als beim ersten Mal: gerufen sein. [37] Das Zweite Vatikanische Konzil spricht von der Berufung aller zur Heiligkeit (vgl. Lumen Gentium, 39). In der Kirche wird der Ruf Gottes offenbar, und jeder, der zur Kirche gehört, ist hineingenommen in diesen Ruf. Die Heiligkeit, die Vollkommenheit bedeuten die Liebe, jene Liebe, die der Herr bis zum Äußersten, bis zur Vollendung in seinem Leben und Sterben offenbart und vollbracht hat (vgl. Joh 13,1). Liebe, die zugleich Gottes- und Nächstenliebe ist, oder – noch weiter entfaltet –: Liebe zu Gott, Liebe zu jedem Nächsten und Fernsten, gegenseitige Liebe, in der die Einheit des Leibes Christi, der Kirche; wächst. Die drei Richtungen des Kreuzesgeschehens, das nach Ostern führt, somit die Fülle des Paschageheimnisses, sind die Wegrichtungen christlichen Lebens überhaupt. Es ist wesenhaft weltlich, geistlich, kirchlich. Jeder Christ ein Geschenk an die Welt; jeder Christ ein Geschenk an Gott; jeder Christ ein Geschenk an die Kirche, an Bruder und Schwester im Glauben. Und auch die vier Momente des Nachfolgeweges wirken hinein in jedes Christenleben. Jeder hat auf seiner Habe, auf seinen Ansprüchen, auf seinem Lebensstil die Hypothek Christi, die Hypothek des Lassens, Helfens und Teilens. Jeder steht unter dem Vorbehalt des Willens Gottes, der uns nur Gott ist, wenn er die Pläne und Konzepte unseres Lebens bestimmen und auch ändern darf. Es braucht für jeden den Gehorsam, zu hören auf das, was Gott uns ein für allemal gesagt hat; zu hören aber auch auf die Stimme, die im Heute, im Geschick und in der Anforderung verlautet, die jetzt auf uns zukommen. Jeder ist gerufen, mit lauterem Herzen Gott zu verherrlichen in seinem Leibe, das Wort, das er mit seinem Leibe sagt, im Tun, im Leiden, im Lieben Ausdruck jener Liebe sein lassend, die ihn geschaffen und erlöst hat. Dabei stehen die „Spielarten“ christlich gelebter Ehe und christlich erfüllter Ehelosigkeit gleichermaßen provozierend dem entgegen, was gang und gäbe ist; auch dies wird ja mehr und mehr zum [38] unselbstverständlichen Zeugnis: Leben weiterzugeben, auszutragen und durchzutragen. Schließlich ist jeder Christ gerufen ins Für und Mit, in jene Kommunion, die mehr und anderes ist als bloß zweckdienliche Kommunikation, die einfach Mitsprechen jenes Ja ist, das Gott unteilbar in Jesus Christus zu mir und zu den anderen gesprochen hat und das uns zusammenbindet.

Die „besondere“ Berufung

Der neue Adam, Jesus Christus, ist nicht nur Exempel der neuen Menschheit, er ist die neue Menschheit, weil wirklich wir in ihm sind, er uns angenommen, in realer Stellvertretung uns übernommen hat. Darin gründet die allgemeine und gemeinsame Berufung zur Nachfolge und damit zur Heiligkeit und Vollkommenheit, wie er heilig und vollkommen ist. Doch diese Stellvertretung, diese Identifikation mit der Menschheit geschieht gerade nicht in einer Abhebung von unserer realen Geschichte, sondern mitten in ihr. Dadurch hat Jesus uns getragen und übernommen, dadurch ist er alle, daß er ein einziger und einzelner ist, einer neben uns. Nur so ist er in allem uns gleich, nur so können wir als die einzelnen und einzigen, die wir selber sind, von ihm her und mit ihm leben. Dies hat aber auch eine weitreichende Konsequenz für christliche Berufung. Es gibt nicht nur die allgemeine Berufung, sondern die je eigene und einzelne eines jeden von uns. Was willst du von mir? Wohin rufst du mich? Nie fehlt eine der drei Grundrichtungen, nie fehlt eines der Momente der Berufung. Aber was dies jeweils bedeutet, dies läßt sich gerade nicht deduktiv ermitteln, sondern nur im konkreten Leben mit dem rufenden Herrn erschließen. In einem Bild gesprochen: Von dem einen Zentrum, von dem her, der zugleich Ruf, Gerufener und Antwort ist, führt [39] zu jedem von uns eine einmalige, unvertauschbare Linie. Und doch liegen diese Linien nicht kommunikationslos nebeneinander, sondern es gibt verschiedenartige Zusammengehörigkeiten des Rufs der einzelnen. Wir können hier nicht entfalten, wie etwa verschiedene geistliche Familien, verschiedene auf eine Spiritualität oder eine Aufgabe bezogene Berufungen in einem übergreifenden Ruf zusammenhängen und wie dieser Zusammenhang zugleich den einmaligen Weg eines jeden umfängt. Wohl aber müssen wir den Blick auf eine vom ersten Augenblick christlicher Existenz her konstitutive Grundgestalt von Ruf lenken: Leben, für dessen Gestalt es kein anderes Warum gibt als den rufenden Herrn. Nochmals: Der Herr ruft jeden. Und viele ruft er, damit sie im Weitergehen von Welt und Zeit bis zu seiner Wiederkunft die Gestalt dieser Welt, das Leben in ihr durchdringen und verwandeln durch seinen Geist und so ihm, dem Wiederkommenden den Weg öffnen. Sie sind Menschen, die anders haben, anders ihr Lebenskonzept einrichten, anders in Ehe und Familie stehen, anders Gemeinschaft stiften und gestalten als jene, die ihr Leben nicht von der Liebe des Gekreuzigten und von der Hoffnung auf Ostern her leben. Der Herr selbst aber hat an seinem Leben und Sterben augenfällig Gestalt werden lassen, was er verkündet hat: daß Gottes Reich nahe ist, das Reich, in dem wir bei Gott sind, in dem Gott bei uns ist und in dem wir mit ihm in unserer Mitte beieinander sind. Jungfräulich hat er dem Vater allein – und so gerade allen – gehört, ihm allein gehorsam, entäußert in die letzte Armut, in der radikalen Einsamkeit die neue Gemeinschaft, das neue Gottesvolk gründend. Und nun ruft eben der Herr Menschen auch dazu, daß sie dieses kommende Reich darstellen an ihrem Leibe. Das „Gebrochene“, Fragmentarische, Unvollständige ihrer Existenz weist daraufhin, daß da noch einer mit im Spiel ist, daß man den anderen Teil ihres Lebens nicht sieht – und [40] doch ist er da und hält und gewährt die Menschlichkeit, ja die Ganzheit, das Heilsein und Freisein dieser bruchstückhaften Lebensgestalt. Er hat sich für mich gebrochen, damit ich und damit wir alle ganz seien. Er ist durch diesen Bruch für uns und mit uns hineingegangen in die Ganzheit seines österlichen Lebens – mich hat er gerufen, in dem Anteil an der Gebrochenheit seiner Kreuzesexistenz die Realität der österlichen Hoffnung zu bezeugen, die durch den Geist schon jetzt verborgen Gegenwart wird. Ich bin nur verstehbar als Antwort; wer mich so stehenläßt, wie ich bin, der versteht mich nicht – oder mein Leben wird ihm zur Frage, die ihn vorstoßen läßt in den Ruf. Und so bezeuge ich gerade in der Unverständlichkeit meines Lebens in sich das Leben aus einem anderen und für einen anderen. Niemand hat radikaler – es erübrigt sich, die Linien auszuziehen – diese Ganzheit im Fragment gelebt als Maria, durch die der Herr in diese Welt kam. Jungfräuliche Mutterschaft aus Gehorsam, beschenkt werden mit dem Sohn Gottes, um ihn zu verlieren und mit leeren Händen nichts anderes mehr zu erwarten als Pfingsten – das ist ihr Weg. In ihr ist Kirche, sind wir alle; in ihr ist der Weg der Gerufenen auf Christus zu und von ihm her zugleich zusammengefaßt, in ihr ist aber auch die Berufung zur Vollkommenheit der Liebe in der Unvollkommenheit der Lebensgestalt, zum reinen Ganzen in der reinen Vorläufigkeit und Leere anschaubar. Maria ist und bleibt die Vorgeschichte des kommenden Christus. Alle, die berufen sind, diesen Kommenden mit ihrem Leben zu bezeugen, finden sich in ihr. Es gibt freilich noch eine andere Berufung, die fundamental in der ihren mitumfaßt, konkret von der ihren unterschieden ist: die Berufung, die lebendige Nachgeschichte des gekommenen Christus zu sein. Er ruft Menschen, damit sie ihm nachfolgen, auf daß er sie alsdann sende. Er greift nach ihnen, [41] damit sie ihn, den Gekommenen, bezeugen und seinen Ruf weitertragen. Grundgestalt solcher Berufung sind die Apostel. Sie sind Gerufene, um den Ruf weiterzutragen. Sie haben die Aufgabe, den Weg bis an die Enden der Erde und der Zeit auszuschreiten, den der Herr in seinem österlichen Kreuzweg bereits gegangen ist und so den Ruf zu allen hinzutragen. Sie haben die Aufgabe, das Volk Gottes zusammenzurufen, auf daß die vielen Gaben und Dienste sich ergänzen im einen Leib; sie haben den Herrn selber gegenwärtigzusetzen, indem Gottes Volk das Opfer des Lobes darbringt; sie stehen im Namen Christi und im Namen aller vor dem Angesicht des Vaters. So aber vereint sich ihre Stimme mit der Stimme Mariens, mit der Stimme der Braut, zum kommenden Herrn: „Komm, Herr Jesus, komm!“ (Vgl. Offb 22,17). Auch wenn bei den Aposteln selbst noch nicht die umfassende Deckungsgleichheit zwischen ihrer Berufung und jener der evangelischen Räte eingeholt ist, die das kommende Gottesreich in der Lebensgestalt als einer solchen bezeugt, so ist doch das Verlassen und Aufgeben, so ist doch die innere Dynamik der kommenden größeren Wirklichkeit, die uns alles aus der Hand schlägt, was wir festhalten, so ist doch die atemberaubende Radikalität der Nachfolge das Vorzeichen vor ihrem Leben. Und wir müssen uns die Frage gefallen lassen, ob wir nicht gerade in einer Zeit, in der Worte vom Reich Gottes als Worte zur Fremdsprache zu werden drohen, noch schärfer als früher auf die Sprache des Lebens, der Lebensgestalt verwiesen sind, um Gottes Herrschaft anzusagen und seinen Ruf weiterzugeben. Wer den gekreuzigten Herrn verdeutlicht und in ihm den kommenden Herrn in den Blick rückt durch den Dienst der Verkündigung, wer dazu bestellt ist, das Opfer darzubringen und zum Mahl einzuladen, in welchem der Tod des Herrn verkündet und seine Auferstehung gepriesen wird, bis er wiederkommt in Herr-[42]lichkeit, wer mit seinem Leib und seinem Herzen den ungeteilten Dienst an allen tun, die Einheit aller im einen Herrn gewährleisten soll: steht dem nicht wie auf den Leib geschnitten jene Gestalt des Lebens zu, die ihren Sinn und ihre Plausibilität allein von der gekreuzigten Liebe Jesu und von Gottes kommendem Reich bezieht? Es ist der Treue der Braut Kirche zu ihrem Bräutigam Christus angemessen, wenn sie seinen Ruf zum priesterlichen Dienst in solcher Gestalt auch und gerade heute verkündet und zur Darstellung bringt. Allerdings müssen wir uns fragen lassen, ob wir als Priester nicht mitunter den inneren Zusammenhang des Ganzen der Nachfolge, aller ihrer Momente und Richtungen, selbst verdunkeln, so daß die Leuchtkraft und Anziehungskraft dieses Rufes in die Krise gerät.

Gerufen, um zu rufen

Wir müssen immer wieder zurückkehren an den springenden Punkt der Berufung, zum Herrn, der am Kreuz, im Pascha, der Ruf, die Antwort, der neue Adam für uns ist. Er sendet Menschen, die seinen Ruf weitersagen und weitertragen. So entspricht es seinem eigenen Tun, das er genau damit begann: Er sagt die kommende Gottesherrschaft an – und das erste, was er in der Konsequenz dieser Verkündigung selber tut, ist: rufen. Er geht am Ufer des Sees entlang und ruft Menschen (vgl. Mk 1,15–20). Er tut es – so dürfen wir in tieferem Hineinhorchen in den Zusammenhang sagen – nicht deshalb, weil er für sein Werk Menschen braucht, sondern weil der Mensch im Horizont der kommenden Gottesherrschaft einfach dieses ist: Gerufener. Daß er dies ist, ein Gerufener, steht zur gegenwärtigen Erfahrung des Menschseins in einer ungeheuerlichen Spannung und andererseits in einer frappierenden Entsprechung. [43] Einerseits entdeckt der Mensch, daß er aus soundso vielen Einflüssen und Vorgegebenheiten zusammenrinnt, daß sein Charakter, seine Lebensbedingungen ihn nicht nur von außen her bestimmen, sondern daß er in seinem innersten Ich-Sagen davon infiziert ist. Es gibt immer mehr Möglichkeiten, das Menschsein zu manipulieren, ihm Weichen zu stellen, die den Menschen selbst in eine unheimliche Bedrängnis bringen: Wer bin ich denn? Das Ich droht sich aufzulösen, sich selbst zu entgehen. Ich werde mir fremd, meine Verfügung über mich selbst entgleitet mir, ja daß es mich gibt, empfinde ich als einen Angriff auf mich, auf meine Freiheit. Aber mit diesem letzten Wort haben wir bereits etwas Überraschendes berührt. Ich nehme meine Gegebenheit nicht einfach hin, ich wehre mich dagegen, Produkt zu sein, das sich aus irgendwelchen Umständen heraus als Ich bezeichnet und von sich in der ersten Person spricht. Nein, je mehr ich mir fremd werde, desto mehr erfahre ich zugleich den Hunger, ich selber zu sein. Ich lehne mich in meinen Vorgegebenheiten und Gewordenheiten ab, weil ich gerade ich selber sein will. Es gibt so etwas wie das Postulat einer Freiheit, das nur um so drängender wird, je weniger ich diese Freiheit selbst mit Erfahrungswerten einzuholen und zu verifizieren vermag. Und so stemme ich mich gegen die Überwucht der Determination, der Vorwegbestimmung aus Erb- und Umweltfaktoren, um Ansprüche geltend zu machen. Wenn mir Dasein nicht so möglich ist, wie ich es mir vorstelle, dann mag ich dieses Dasein nicht, habe den Eindruck, es auch wegwerfen zu können. Was hat es schon damit auf sich, daß ich bin, wenn ich nicht so sein kann, wie ich eigentlich möchte? Ein Hunger nach selbstgewählten Daseinsmöglichkeiten – und zugleich eine Appetitlosigkeit gegenüber dem Dasein, das ich eben nicht nur nach eigener Laune gestalten kann: beides liegt miteinander in einem oft dramatischen Streit in unserer eigenen Befindlichkeit.

[44] Zwischenspiel: der appetitus und der Ruf

Das Wort Appetitlosigkeit bringt uns auf eine Fährte. In der scholastischen Lehre vom Menschen spielt der appetitus, das Streben des Menschen, das ihm eingeboren ist, eine entscheidende Rolle. Solcher appetitus, solches Aussein auf das Gute ist dem Menschen vorgegeben, ohne solche Vorgabe ist er nicht frei. Freiheit selbst ist das Offenbarwerden dieses appetitus, dieses Strebens, dieser Vorbestimmtheit vom Guten. Wo sie ankommt bei mir, setzt sie mich in Beziehung zu ihr, will sagen, zum Guten – und darin zu mir als dem, der dieses Gute will. Was immer ich will, das will ich als ein Gut. Freiheit heißt Bestimmtsein vom Guten, und diese Freiheit wächst, je klarer und bewußter ich mich vom Guten bestimmen lasse. Wir können diese Bestimmung durch das Gute, wir können dieses merkwürdige Verhältnis eines vorgegebenen Appetites, der uns erst die Freiheit gibt, essen zu können, während wir in absoluter Appetitlosigkeit nicht frei wären, essen zu können, in unmittelbare Beziehung setzen zu unserer Bestimmung des Menschen: Menschsein heißt Gerufensein. Das Gute ruft uns, und nur in diesem Ruf, im Ankommen dieses Rufes sind wir frei, zu antworten, und das ist die Würde des Menschen, antworten zu können, verantwortlich zu sein. Schauen wir das Gute, das uns Appetit macht, das uns ruft, des näheren an. Es legt sich uns, in Weiterführung scholastischer Bestimmungen, dreifach aus. Einmal ist es eben das absolut Anziehende, zu sich hin Rufende, das uns auf den Weg bringt und in uns die beständige Bemühung um Annäherung in allen unseren Vollzügen auslöst. Zum andern gibt es die Bestimmung: bonum diffusivum sui – das Gute ist jenes, was sich selbst verströmt, mitteilt. Wenn ich mich vom Guten anziehen lasse, so werde ich selber gut. Und ich bin [45] gut, sofern ich die Eigenart des mich anziehenden, rufenden, sich mir mitteilenden Guten übernehme und in mich nehme, selber ausstrahlend werde, selber mich mitteile, selber mich über mich hinausgebe, eben gut, gütig, wie ein Licht bin, das sich verstrahlt. Der Richtung nach oben entspricht die Richtung nach unten und außen. Wir können aber noch eine dritte Richtung ausmachen: bonum est communicativum – das Gute ist mitteilsam, verbindend. In dieser Form handelt es sich nicht um einen Satz der scholastischen Tradition, wohl aber erwächst er aus einem hier durchaus zu bemühenden wichtigen Begriff einer auf der Scholastik basierenden Soziallehre, dem Begriff des bonum commune, des Gemeinwohls, des gemeinsamen Guten. Um mein eigenes Wohl, um das Gute in meinem Leben und für mein Leben bin ich wahrhaft nur dann bemüht, wenn ich mich auch mühe um das Wohl des anderen, um das gemeinsame Gute, um das, was den anderen gut ist. Nur jenes Gut ist wahrhaft gemeinsames Gut, Gemeinwohl, das im höchsten Maß das Gute, das Wohl für einen jeden einzelnen gewährleistet; umgekehrt aber findet der einzelne das für ihn wahrhaft Gute nur, indem er auf das Gute für alle, das gemeinsame Gute bedacht ist. Diese in der Bemühung um das Gute, im Appetit des Guten notwendig eingeschlossene Beziehung bezeichnet zusätzlich zur aufsteigenden und absteigenden Linie die Querlinie, die wechselseitige Verbindung, die im Guten entsteht. Das Gute als das Rufende – daraus erwächst die dreifache Rufrichtung: hin zum je größeren Guten, zum absolut Guten, weg von sich selbst, um das Gute mitzuteilen und so gerade gut zu sein, hin zueinander, um das gemeinsame Gute und darin das für jeden einzelnen Gute und somit die Verbindung zu finden, die den einzelnen über sich hinaushebt und dennoch nicht auslöscht. So kehren in einer vom bonum, also vom Guten, und vom appetitus, also vom die Freiheit ermöglichenden und tragenden Streben, her gewonnenen Anthropologie die Grund-[46]richtungen des Rufes wieder. Sinn dieser Zwischenüberlegung: Wir halten uns, den Menschen vom Gerufensein her verstehend, nicht neben den Bestimmungen auf, die uns Menschsein in sich selber, in philosophischer Sicht, verstehbar machen, sondern wir entdecken hier eine innere Entsprechung. Und des weiteren: Wir entdecken, wie wichtig es ist, daß der Mensch über die Blockade seiner selbst hinauswächst, einerseits sich selbst nicht mehr zu finden, seiner Freiheit verlustig zu gehen im Überdruß und Überdruck der Fremdbestimmung, zum andern aber um so mehr Selbstbestimmung zu suchen. Nur in der Annahme, von einem letzten Guten, von einem absoluten Rufenden bestimmt zu sein, kann er sich selber annehmen und wird in solcher Annahme zu sich selbst befreit. Der Appetitlosigkeit des Daseins oder dem angsthaft fixierten und fixierenden Drang zur bloßen Selbstverwirklichung gegenüber bietet in der Tat eine Anthropologie des Rufes eine befreiende Alternative. Du bist nicht nur Knäuel von Zufälligkeiten, du bist nicht nur der zu diesem oder jenem Leben Verurteilte, du bist nicht nur glücklich unter der Bedingung, daß du dies oder jenes um jeden Preis erreichst; nein, du bist gerufen, gewollt, geliebt – und wo dies bei dir ankommt, da wirst du frei, denn frei sein heißt, frei sein zu antworten. Den Ruf finden und die Antwort finden, das heißt die Freiheit finden, das heißt sein eigenes Menschsein finden.

Nochmals: Gerufen, um zu rufen

Wenn der Mensch ein Gerufener ist, wenn jener, in dem der absolute Ruf Fleisch geworden ist, uns ruft, dann ist Berufungspastoral nicht nur ein unwichtiger oder auch sehr wichtiger Sonderaspekt der Pastoral, sondern Pastoral ins-[47]gesamt wird zur Berufungspastoral. Jeder Mensch ist gerufen. Der zum priesterlichen Dienst Gerufene hat die Aufgabe, in sich selber diese Grunddimension des Menschseins und Christseins ans Licht zu heben, um sie leben und beglaubigen zu können. Und er hat zugleich die Aufgabe, der Sachwalter des Rufes zu sein, der an jeden Menschen ergeht, diesen Ruf verstehbar zu machen, den anderen zu helfen, ihn zu entdecken, und ihnen Wege zu zeigen, dem Ruf zu folgen. Eine so verstandene Pastoral, ein so verstandener Auftrag des Priesters ermutigt ihn zur Berufungspastoral im Sinn der Sorge für die geistlichen Berufe, er befreit eine solche Berufungspastoral aber zugleich von der Engführung, nur der Rekrutierung nötiger Dienste zu gelten. Die geistlichen Berufe stehen im umfassenden Kontext dessen, was jeden Menschen bewegt und angeht: Entdecke deinen Ruf; finde dich so, in deinem Ruf, daß du zugleich dich geben, dich verschenken kannst, dort, wo Gott will, und so, wie Gott will! Es wird aber ebenfalls deutlich, daß Berufungspastoral – und Pastoral überhaupt – nicht eine Veranstaltung sein kann, die neben unserem eigenen Leben herläuft, sondern daß Spiritualität und Pastoral, noch umfassender gesagt: Leben und Dienst untrennbar miteinander verbunden sind. Die Wege, die Pastoral zur Pastoral des Rufes werden lassen, sind dieselben, die mich jeweils Ruf selber leben lassen. Die drei Richtungen des Rufes und die vier Momente des Rufes geben in der Tat eine Leitlinie, die dem Priester selbst helfen kann, seinen Ruf zu wahren und zu vertiefen, zugleich aber Ruf beim andern zu entdecken und zu fördern. Setzen wir bei den vier Momenten der Berufung an. Jedem wird gesagt: Verlaß deine Habe! Nur die Großzügigkeit, die wir im kleinen bereits einüben, nur das Weggebenkönnen, Lassenkönnen beglaubigten unsern Ruf und ermöglichen [48] dem andern, daß er sich rufen lassen, seinen Ruf finden und durchtragen kann. Anspruchsdenken und Ruf stehen einander frontal entgegen. Höre auf mich, folge mir! Nur der wird den großen Ruf seines Lebens hören und ihm treu bleiben, der die kleinen Rufe des Alltags auch wahrnimmt. Was willst du jetzt von mir? Wie kann ich jetzt in deinem Willen leben? Gerade der Umgang mit dem Wort Gottes als einem Wort, das immer neu nicht nur mich beschenken und mich trösten, sondern auch mich fordern darf, so daß es in mir Lebensgestalt wird, befähigt dazu, daß der große, einmalige, personal auf mich zugeschnittene Ruf in mir Macht gewinnen kann. Das lautere Herz und der hingegebene Leib: Einübung in jene Beherrschung der Sinne und Triebe insgesamt, die nicht nur Training und Disziplin bedeutet, sondern Hingabe- und Gestaltungsfähigkeit, wird den Menschen befähigen, sein Herz und seinen Leib nicht zu verlieren, sondern zu verschenken; nicht sich zu suchen, sondern personale Beziehung; jene Reife zu erlangen, die den Leib zum Ausdruck des Herzens, der Liebe, die Vollzug wie Verzicht gleichermaßen zum Wort, zur Gestalt werden läßt. Nur ein Leben nicht in der Fixierung auf sich, sondern in der Einfügung ins Ganze, im „Dasein für“ sprengt die Schale unseres Ich so auf, daß der Strahl des Rufes den Kern unseres Selbst zu treffen vermag. Großzügigkeit, Horchen auf das Wort, Wortwerdung des Triebes, „Dasein für“ bezeichnen so Leitlinien, um den Ruf zu leben und für den Ruf zu befähigen. Die drei Richtungen des Rufes, eines jeden Rufes, bestätigen dies und verdichten es zu den drei Grundvollzügen, die in der Kirche lebendig sein müssen, wenn sie im doppelten Wortsinn jene Berufungen erhalten will, die der Herr ihr anvertraut für die Menschheit. Es beginnt mit der Einübung ins Unten, mit der Bereitschaft, zu dienen, zu helfen, klein zu [49] sein, sich zu bücken. Ruf stellt nie auf ein Podest; Ruf macht nicht groß, sondern klein. Ruf schickt fort. Gott braucht für seine Kirche nicht die Großen, sondern die Kleinen, und jeder, der seinen Ruf versteht, wird klein werden und Freund der Kleinen. Die zweite Richtung freilich führt nach oben, nach innen, aber nicht im Sinn der selbstgenügsamen Absonderung, sondern des Betens, des Verweilens in Gott. Nur eine Kirche, die zu Gott zu rufen versteht, wird den Ruf von Gott hören können. Nur wenn wir zu Gott selber beten, werden wir von Gott hören, was er uns zu sagen, von Gott empfangen, was er uns zu geben hat. Deshalb sind auch im Evangelium selber die beiden Dinge so eng miteinander verknotet: „Bittet den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden“ (Lk 10,2). Schließlich kann Berufung nur wachsen, wo Einheit, gegenseitige Liebe gelingt. So oft fehlt es am Netz der Liebe, der Kommunikation, am konkreten Miteinander, in welchem der einzelne den Herrn in der Mitte und sich selbst auf seinem Platz beim Herrn und im Ganzen finden kann. Wo das Netz lose und schlaff wird, da fallen jene hindurch, die es fangen will. Wir brauchen das dichte Netz derer, die an Gottes Ruf glauben, damit Ruf lebbar und auffindbar wird.

Samuel und Eli

Wir haben unserer Besinnung auf den Ruf die Erzählung der Berufung des Samuel vorausgeschickt. Es ist eine wichtige Episode in der Gegengeschichte gegen den von Adam verwirkten Ruf in der Heilsgeschichte als Rufgeschichte. Der Grund, weshalb wir gerade diese Erzählung wählten, liegt genau im dreimaligen Nicht-Verstehen des Rufes Gottes durch den jungen Samuel, der noch nicht geübt war, das Wort des Herrn zu hören. Ist nicht dies heute auch unsere Not? [50] Wer deutet die oft verwirrenden Unruhen, die über Menschen, zumal über junge Menschen, kommen? Woher sollen sie wissen, daß in dem, was ihr Leben aufreißt, der Ruf des Herrn am Werk ist? Ich glaube nicht, daß es heute zu wenig Samuels gibt. Aber wo sind die Elis? Sind wir es?