„Nächte, die Licht geben“

Biographische Ersterfahrung

Als am Abend des 27. November 1944 die Stadt Freiburg durch den Bombenangriff der Alliierten größtenteils zerstört wurde, war Klaus Hemmerle (1929–1994), der spätere Freiburger Professor für Religionsphilosophie und Bischof von Aachen, gerade fünfzehn Jahre alt. An diesem Abend zur Brandwache in der Schule eingeteilt, erlebte er zusammen mit seinem Vater den Angriff in einem Luftschutzkeller, um bei der Rückkehr zum elterlichen Haus die Mutter wohlbehalten anzutreffen, aber das eigene Haus in Flammen zu sehen. Das Hab und Gut der Familie, alles, was dem Jungen im Haus der Eltern lieb war und sein Leben bis dahin geprägt hatte, verbrannte, sieht man von zwei Büchern ab, die Hemmerle noch kurz vor dem Angriff eingepackt und mitgenommen hatte: das Franziskusbuch von Joseph Bernhart und Reinhold Schneiders Erzählungsband „Die dunkle Nacht“.

Hemmerle hat immer wieder von dieser Nacht erzählt.1 Sie war für ihn eine jener [114] „Nächte, die Licht geben“2, weil sich mit ihr zwei diametral entgegenstehende Erfahrungen verbanden: einerseits die Erfahrung der Zerstörung und Vernichtung und andererseits die des Unzerstörbaren in Gestalt des Freiburger Münsterturmes, der den Angriff überstanden hatte. Aber das Motiv der Nacht findet sich nicht nur in diesem Kontext des Lebens von Klaus Hemmerle. Es ist bemerkenswert, dass neben dieser einschneidenden und zugleich richtungsweisenden Erfahrung auch andere Erfahrungen, Begegnungen, Gespräche und Einsichten, die Hemmerle selbst als für sein Leben entscheidend charakterisierte, nächtliche Ereignisse darstellen. Zwei weitere Begebenheiten sollen exemplarisch dargestellt werden.3

Da ist zum einen die Nacht vor seiner Priesterweihe, in der sich Hemmerle mit völliger Ratlosigkeit konfrontiert sah: „Ich wusste nicht mehr, was ich eigentlich wollte und sollte.“4 In dieser Situation radikalen Zweifelns fand Hemmerle in der Lektüre von 1 Kor 11,17–34 ein Bild, das ihm nicht nur half, den Zweifel zu überwinden, sondern das seine ganze priesterliche Existenz prägte. Diese Passage der Heiligen Schrift thematisiert die rechte Feier des Herrenmahls, ohne ein Wort über den Priester zu verlieren. Aber gerade dieses Schweigen über die Bedeutung des Priesters berührte Hemmerle. „Genau das ist das Wichtigste, was man vom Priester sagen, kann, nämlich: Der Priester muss jenes Nichts sein, durch das die ganze Gemeinde eins wird in Jesus.“5 Die Tatsache, dass der Priester nicht erwähnt wird, dass er buchstäblich nichts ist, wird Hemmerle zum Sinnbild seines Priestertums. Er hat dieses Motiv des Nichts in späteren Exerzitien und Schriften über die Spiritualität des Priesters immer wieder aufgegriffen.6

Zum anderen lässt sich eine nächtliche Erfahrung Hemmerles anführen, die seine Gottesbeziehung bleibend prägte. Die Trennung von Lebenswirklichkeit und Glaubenswelt empfand Hemmerle schon zu Studienzeiten als ungenügend. Vor diesem Hintergrund faszinierte ihn der Freiburger Neutestamentler Anton Vögtle mit seinem neuen Verständnis der Reich-Gottes-Predigt Jesu: Gott war nicht oberstes Prinzip oder ferner Horizont, sondern hatte sich in Jesus in der Welt inkarniert. Gott und Welt stellten nicht zwei voneinander getrennte Sphären dar, sondern waren als Einheit zu verstehen. Aber es gelang Hemmerle weder in seinem theologischen Denken noch in seiner religiösen Erfahrung auf befriedigende Weise die Göttlichkeit Gottes und die Weltlichkeit der Welt so zusammenzubringen, dass die Spaltung zwischen Glaubensbotschaft und Alltagsleben zugunsten einer Erfahrung der Nähe und Gegenwart Gottes überwunden war. Dies änderte sich, als Hemmerle im Sommer 1958 mit anderen Freiburger Priestern bei einem Treffen der Fokolare in den Dolomiten die „für sein weiteres Leben und Glauben wohl grundstürzende persönliche Gotteserfahrung“7 machte: „Auf der Mariapoli war auf einen Schlag diese Kluft geschlossen. Gott war einfach da. [...] Ich erinnere mich, dass ich eines Nachts nicht schlafen konnte unter dem Eindruck dieser unmittelbaren Nähe [115] Gottes. [...] Mit einem Mal erschien mir die Welt als der unendliche, aber bergende Raum, in dem Gott uns Vater ist und wir uns ihm anvertrauen [...]. Mir ging auf, dass der Vater, die Liebe, und Jesus, der Sohn, sich im Geist begegnen, den ich als die Atmosphäre der göttlichen Einheit bezeichnen möchte. In diesem Geschehen reißt Gott einen Zwischenraum auf, in den ich eintreten darf, um diesen lebendigen Gott zu erfahren.“8 In dieser, zuvor nie erlebten Intensität der Gegenwart Gottes war das Geheimnis Gottes gewahrt und war Gott zugleich mehr als bloßes Geheimnis.


  1. K. Hemmerle, Ausgewählte Schriften, Bde. 1–5, hrsg. von R. Feiter, Freiburg/Br. 1995–1996 (im folgenden abgekürzt mit AS. Die römische Ziffer gibt den Band an.), Bd. 5, 292–295; ders., Reinhold Schneider, Der Turm des Freiburger Münsters, in; H. Kirchhoff / M. Saller (Hrsg.), Im Dialog mit Texten. Zum Umgang mit Literarischen Texten in Religionsunterricht und Gemeindearbeit, Donauwörth 1989, 63–71. ↩︎

  2. K. Hemmerle, Nächte, die Licht geben, in: AS V, 293. ↩︎

  3. Vgl. darüber hinaus ders., AS V, 294f. ↩︎

  4. Ders., Gen's. Riv. di vita ecclesiale 25 (1995), 16–19. ↩︎

  5. Ebd. ↩︎

  6. Vgl. ders., Gemeinschalt ist die Aufgabe, die ich vor mir sehe. Predigt anläßlich seiner Weihe zum Bischof von Aachen am 8. November 1975, in: ders., Nicht Nachlassverwalter, sondern Wegbereiter. Klaus Hemmerle Predigten, hrsg. v. K. Collas, Aachen, 1995, 9–16, hier 9; ders., Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters, München 1986, 19, 218. ↩︎

  7. K. Kienzler, Christologie bei Klaus Hemmerle, in: Lebendige Katechese 20 (1998), 97–103, hier 97. ↩︎

  8. K. Hemmerle zit. nach W. Bader / W. Hagemann (Hrsg.), Klaus Hemmerle. Grundlinien seines Lebens, München 2001, 72. ↩︎