Theologie als Nachfolge
Bonaventura: die theologische Konsequenz des Franziskus
Die Dynamik des Franz von Assisi hat sich nicht zuletzt darin erwiesen, daß seine Antwort, die eine Antwort des Lebens, man ist versucht zu sagen: des bloßen Lebens war, auch hinausdrang über die Unmittelbarkeit der vollzogenen, persönlichen Existenz. Gewiß sprengte sein Geist das Gefäß, das er sich in seinem Orden schuf, so daß dieser Orden recht bald in die Krise zwischen Fanatismus und Kompromiß geriet. Doch das beinahe noch Unglaublichere als die „Sozialisierung“ seines Geistes gelang, wenigstens für einen großen, Geschichte bleibenden, wenn auch oft verschatteten Augenblick. Dieser Augenblick heißt: Bonaventura. Er ist nicht der einzige große Franziskanertheologe der Scholastik – und geistesgeschichtlich wird sich der Kundige auch nicht damit zufriedengeben, Bonaventura bloß auf Franziskus und seinen Impuls zurückzuführen; mehr Ströme der Überlieferung, mehr zeitgeschichtliche Konstellationen treffen aufeinander in seiner Gestalt. Und doch, wenn man durchblickt auf die innerste Struktur, die den Gedanken Bonaventuras prägt, wenn man über das Was seiner Aussagen zum unverwechselbaren Wie hin fragt, so läßt sich die Begegnung mit ihm nicht mehr trennen von der Begegnung mit Franz. [15] Bonaventura hat die Bitte der Klara im Medium des spekulativen Gedankens eingelöst, er hat ein Denken entfalten dürfen, das keinen anderen Anfang duldet und kein anderes Ziel übrigläßt als allein dieses eine: Gott. Und er hat zugleich das andere, was als Kennmal des Franziskus gelten darf, zur Gestalt des Denkens gerinnen lassen: die universale Integrationskraft der einen Mitte, die Öffnung zu aller Kreatur, die aus der exklusiven Zuwendung zu Gott erwächst. Bonaventura hat den Sonnengesang des Franziskus noch einmal geschrieben, indem er Welt und Wissenschaft, Existenz und Geschichte zu Strophen eines Hymnus werden ließ, der nichts anderes besingt als das Eine und den Einen. Und noch ein weiteres bindet ihn, bindet die Textur seines Gedankens an Franz: der eine Zugang zur Entrückung in Gott und zum Sich-Einlassen in alle Dimensionen der Welt ist die Armut und Torheit des Gekreuzigten. Das Kreuz als sein Buch, diese Episode aus dem angeblichen Gespräch mit Thomas, deckt mehr auf, als ihr frommer Schein zunächst vermuten läßt. Kreuz, das ist für Bonaventura aber nicht bloß ein Wort der Botschaft, sondern unlöslich damit verbunden ein Wort der Nachfolge. Theorie und Praxis, Botschaft und Vollzug lassen sich bei ihm an den entscheidenden Stellen des Gedankens nicht trennen; kein Theologe in der ganzen Geistesgeschichte hat so leidenschaftlich und nachdrücklich wie er den Zusammenhang geistlicher Praxis und theologischen Erkennens herausgestellt und reflektiert. Und das ist kein Zusatz, sondern es ist das Mark seines Gedankens: dieser Gedanke selbst versteht sich als Auslegung von Unmittelbarkeit, von Erfahrung. Was Franz von Assisi und unser heutiges Interesse, ja unsere heutige Not einander naherückt, das spiegelt sich also auch in der Weise, wie Bonaventura Franz ins Medium des Gedankens, der Theologie übersetzt: Gott allein, Erfahrung als Einheit von Theorie und Praxis und Begründung der Theorie in der Praxis des Ursprungs, schließlich umfassende Integration, Suchen und Finden des Einen in Allem und des Alles in Einem dürfen als Merkmale bonaventuranischen Denkens gelten. Anlaß genug, heute auf diesen Denker zu blicken.