Theologie als Nachfolge
Bonaventuras Alternativmodell
Die Antwort Bonaventuras zeigt ihre Tiefe, wenn wir nicht nur, ja nicht zuerst die inhaltlichen Auskünfte zusammenstellen, die sein Werk auf unsere Frage gibt. Kennzeichnend für ihn ist die Weise, wie er konkret zu denken ansetzt. Am Anfang vieler und besonders gewichtiger Werke schließt Bonaventura eine Situation [46] auf, die das Spielfeld seines „sachlichen“ Gedankengangs allererst umreißt. Die drei Kennmale dieser Situation: Schriftwort, Anrufung, Reflexion auf die Befindlichkeit des Lesers oder Hörers. Man könnte versucht sein, sie als bloße Stilmittel zu betrachten; doch die Weise, wie diese drei Kennmale in den folgenden Gedankengang einbezogen werden, enthüllt die grundsätzliche Bedeutung dieser anfänglichen Situierung des Gedankens. Der Gedanke sagt bei Bonaventura nicht nur etwas, sondern er versucht, das Wort und den Menschen aufeinander zuzubringen – und darum muß ihr fundamentales Zueinander bereits am Anfang stehen, am Anfang nicht bloß als mitzubedenkender Inhalt, sondern am Anfang in einer durch das Wort gestifteten oder ausdrücklich gemachten Beziehung. Das Wort ist Anspruch, das Eingehen auf das Wort ist bittender, preisender, nachfolgender Einsprung in das Wort und darin Mitnahme der eigenen Situation ins Wort, Entbergung dieser Situation durchs Wort. Das Gesagte wird anschaulich an der Einstiegspassage des Itinerarium. Sein erstes Wort: „Im Anfang rufe ich den ersten Anfang an.“1 Bonaventura verknüpft sein Anfangen mit dem, welcher der Anfang ist, und das Band der Verknüpfung ist die Anrufung, also nicht aussagende Reflexion, sondern anredende Beziehung, die diesen Anfang oben und den Anrufenden unten sein läßt, die den ersten und den eigenen zweiten Anfang zugleich aneinander bindet und voneinander unterscheidet. In der Folge erklärt Bonaventura, wer dieser Anfang ist: der Vater, und er bestimmt den Vater dadurch, daß von ihm das Licht fürs eigene Denken, daß von ihm überhaupt jegliche gute Gabe herniedersteigt. Der erste Anfang wird also nicht als ein fixer Punkt anvisiert, sondern der Anrufende wendet sich hinein in die Initiative dieses ersten Anfangs, und diese Initiative umfaßt zwei Momente: der erste Anfang bleibt oben, ja geht gerade in der Anrufung als das Oben auf; doch als dieses Oben konstituiert der erste Anfang nicht nur das Unten, sondern er beschenkt es, er gibt sich seinem Unten im descensus, im Abstieg zum Unten. Die Position des „Vaters der Lichter“ wird nicht allein als der allgemeine Rahmen für die eigene Denksituation bemüht, vielmehr wird diese Position [47] für das konkrete Unterfangen dieses eben zu beginnenden Denkens aktualisiert: Jetzt, für den eben anstehenden Denkweg, soll er uns erleuchtete Augen geben.
Darin aber klingen zwei für die Situation des Ansatzes entscheidende Bestimmungen an: einmal die Situation der eigenen Ohnmacht, die nicht aus sich selber zu sehen vermag; zum anderen eben die Kommunikation des selben und einen Lichtes, in dem die von Gott her eröffnete Landschaft des Zusammenhangs zwischen ihm und uns auch für uns sichtbar und begehbar wird. Das Sehenkönnen selber wird so nicht im Interesse eines Bescheidwissens, einer bloß intellektuellen Steigerung der eigenen Erkenntnis erstrebt, sondern als Orientierung für einen Weg, für den „Weg des Friedens“, der alles Begreifen übersteigt. Die Ansatzsituation umfängt also den anrufenden Aufstieg zum erstanfänglichen Oben, darin den anfangenden Niederstieg des Oben und daraus den „zweiten“ Aufstieg vom Unten ins Oben, den Weg, der das Oben von unten her im Vollzug einholt. Solcher übersteigende Vollzug geht – nochmalige Bestätigung der Verwiesenheit des Unten aufs Oben – über alles Vermochte und Erwartbare, über den Horizont des Begreifens hinaus, hin zu dem, was für Bonaventura „Friede“ heißt, vollkommenes Ineinandersein des Oben und des Unten, wahrendes Aufgehobensein des beiden ineinander, Gemeinschaft des Oben mit dem Unten, des Unten mit dem Oben. Es sei in diesem Zusammenhang vermerkt, daß sich dieselben Momente in anderer Position dort wiederholen, wo nach dem Prolog der „inhaltliche“ Gang des Werkes im engeren Sinn einsetzt.2 Dieser inhaltliche Gang ist ja der Aufstieg der Seele zu Gott – aber trotz der eindeutigen Klärung, die bereits der Prolog schafft, unterläßt Bonaventura es nicht, wiederum die führende Rolle des Oben, die Kraft des Oben als Kraft zum Oben namhaft zu machen und als den Horizont dieses Aufstiegs und seine Voraussetzung das Gebet als „Mutter und Ursprung der tätigen Aufwärtsbewegung“ (sursumactio) anzuempfehlen.
Kehren wir nochmals zum Prolog zurück: Das Auseinander und Zueinander des Oben und Unten sind genannt, das Spielfeld des [48] Gedankens ist zum Kraftfeld seiner Bewegung und zum Begegnungsfeld der Partner, Gottes und des Menschen, geworden. Doch noch einen entscheidenden Punkt haben wir übergangen: die Vermittlung. Die Anrufung, aber auch die Ankündigung und Gabe des Friedens geschehen durch Jesus Christus und durch den, der ihn, als Fürsprecher und als Verkündiger, wiederholt, erneuert, nahebringt: Franz von Assisi. Die fundamentale Vermittlung durch Jesus Christus, die uns in anderem Zusammenhang noch als der Knotenpunkt des bonaventuranischen Ansatzes der Theologie zu beschäftigen hat, wird nicht durch die sekundäre Vermittlung in Franz verschattet oder gar verdrängt, sie wird vielmehr eingeholt, wiederholt, nahegebracht, sie ist die einzige und ganze Kraft in der Zweitvermittlung. Doch wiederum ist es typisch für Bonaventura, daß das Allgemeine und Fundamentale sich zuspitzt aufs Konkrete, auf die Situation zu. Bleibt nur noch zu vermerken, daß die in der Situierung des Anfangs eingeführten Motive zugleich die Leitmotive des gesamten Weges sind, den das Itinerarium beschreibt. Der Blick über das Itinerarium hinaus auf andere Werke Bonaventuras erlaubt einen bestätigenden und erweiternden Nachtrag. Es sind zwei Schriftworte, die in den Einleitungspassagen Bonaventuras eine bevorzugte Rolle spielen. Das eine ist das uns bereits vom Itinerarium her geläufige Zitat des Jakobusbriefes vom Vater der Lichter, von dem jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk stammen.3 Die andere Stelle: „Ich beuge meine Knie vor dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, von dem alle Vaterschaft im Himmel und auf Erden ihren Namen hat“ (Eph 3, 14).4 Beide Worte markieren den Ansatz von oben, beide schwingen sich ein in die Bewegung Gottes, der sich verschenkt; beide kennzeichnen aber auch die eigene Situation dessen, der zu denken anfängt, als unten, als angewiesen und hingeordnet auf den Anfang von oben.
Die innere Dramatik dieses Unten, dieser unserer Situation, tritt in anderen Schriften als dem Itinerarium eher noch schärfer hervor; sie erweist das relative Recht des Ansatzes von unten, vom Menschen her, rückt diesen aber gegenüber heutigen Postulaten in einen anderen Bezugsrahmen. Der Mensch ist zwar grundsätz- [49] lich, als Geschöpf, „überfordert“ durch die Gabe Gottes. Wenn Gott ihm etwas geben will, so muß er ihm auch je geben, die Gabe empfangen zu können. Aber die ursprüngliche Befähigung des Menschen für Gottes Gabe ist nochmals gebrochen und gefährdet durch den Einbruch der Schuld. Darauf kommt Bonaventura immer wieder zu sprechen, auch im Itinerarium, doch besonders einläßlich im Soliloquium.5 Aus dieser heilsgeschichtlichen Situation der Schwäche menschlicher Einsicht und Kraft und ihrer erhöhten Versuchlichkeit, sich an vorletzte Ziele zu verlieren, erhält die uns bereits aus dem Hexaemeron bekannte Frage „Wie müssen wir selber sein?“ bei Bonaventura ihren bohrenden Klang. Wenigstens indirekt gehört sie in der Regel zum Anfang, zur Situierung des Gedankens bei Bonaventura. Das Soliloquium, aber auch anderwärts angestellte Reflexionen über die Schwerfälligkeit des Menschen, die an sich so evidente Nähe, Größe und Güte Gottes zu sehen, charakterisieren die Dialektik, in welcher menschlicher Ansatz auf Gott zu steht. Als die eigentliche Unmittelbarkeit gilt Bonaventura die Unmittelbarkeit zum sich gebenden, in seiner Gabe das eigene Sein und Erkennen allererst in Gang bringenden Gott. Diese Unmittelbarkeit ist aber oftmals verstellt durch die andere, die Unmittelbarkeit zu endlichen Gegenständen und Zielen. Solche „falsche“ Unmittelbarkeit muß durchschaut, aufgebrochen werden. Sie stammt aus einem falschen Vorurteil, einer falschen Hinneigung zum Entsprungenen statt zum Ursprung. Umorientierung tut also not, gelingt aber keineswegs selbstverständlich; sie muß dem Menschen, seiner Freiheit abgerungen werden, indem ihm die fernere und doch zugleich viel nähere, größere und integrierende Unmittelbarkeit Gottes als das den Einsatz des Daseins allein Lohnende vorgestellt wird. Die Umorientierung ist in einem Umorientierung weg von sich auf den größeren Gott und Umorientierung aufs unverstellte, ursprüngliche eigene Sein, Aufhebung der Entfremdung zu Gott und der Selbstentfremdung. Bonaventura zieht die Formel des Ambrosius heran: Gib dich dir selbst zurück (redde ergo te tibi)6. Das Entscheidende solcher Rückgabe an sich selbst und Rückkehr auf sich selbst in der Rückgabe an Gott und im Aufbruch zu ihm ist [50] wiederum der Vorrang der Gabe vor der Leistung; nicht Ethos, sondern Glaube ist das erste, was ins Spiel kommt, Glaube als Handelnlassen Gottes am eigenen Ich – wobei solches Handelnlassen freilich seinerseits auch menschliches Tun, antwortende Haltung, Ethos ist. Die berechtigten Momente des anthropologischen Ansatzes sind so aufgegriffen, aber zugleich umgriffen von der initiativ bleibenden Struktur des Ansatzes Gottes zum Menschen.
Eine weitere Perspektive desselben: Bonaventura visiert stets das Ziel an, auf welches der Weg des Menschen und der Geschichte weist: der eschatologische Friede, die Schau Gottes, die Seligkeit. Das Heil, das erfüllende Woraufhin menschlichen Suchens und Strebens prägt sein Denken von seinem Anfang, von seinem Ansatz her. Wiederum trägt sich die „anthropologische“ Perspektive ins bonaventuranische Konzept von Theologie ein; doch wiederum geschieht dies auf eine typische Weise: Einung mit Gott, Schau Gottes, Seligkeit sind nicht primär abgelesen von einer Bedürfnisanalyse des Menschen, sondern vom Blick auf den Ursprung, der eingeholt sein will und der, weil Ursprung, auch allein dem Entsprungenen genügt. Bei Bonaventura ist Heil nicht so sehr ein induktiv, vom menschlichen Ganz-Sein her ermitteltes und postuliertes Supplement, sondern vor allem die Konsequenz des Ansatzes von Gott, vom je größeren Ursprung her. Dieser je größere Ursprung setzt sich auch im Ende durch; denn das Ende des Weges zu Gott ist je wieder ein Lassen und Verlieren, eine Negativität, die alle Aktivität und Positivität einzig ihm einräumt. Nachdem im Hexaemeron die Weisheit, die Bonaventura als das Ziel des Wortes gilt, ihre steigernden Stufen der Eingestaltigkeit, Vielgestaltigkeit und Allgestaltigkeit durchschritten hat, vollendet sie sich in der Kehre, im scheinbaren Abbruch zur Nichtgestaltigkeit;7 was sie erreicht, muß sie wieder verschenken, damit das letzte Wort, auf das sie nicht von sich her sich festlegen darf, Gott allein sprechen kann. Ähnlich steht am Ende des Itinerarium, am Ende des Aufstiegs durch die Schöpfung bis hin zum dreifaltigen Gott, das Feuer, das wegnimmt und umgestaltet, der Tod, durch den hindurch erst Gott sichtbar wird.8 Ansatz aufs Ziel zu – das [51] meint bei Bonaventura den initiativen Überschuß des Zieles über das Erstreben und Vermögen des Menschen hinaus.
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Itinerarium, Prolog 1; auf diese Ziffer beziehen sich auch die folgenden Zitate und Referate, soweit nicht anders vermerkt. ↩︎
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Itinerarium I, 1. ↩︎
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Zum Beispiel De reductione, Collationes de Septem donis Spiritus Sancti, Soliloquium. ↩︎
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Soliloquium und Breviloquium. ↩︎
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Vgl. Itinerarium I, 6 und 7; Soliloquium I, 3–9. 10–28. ↩︎
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Soliloquium I, 2. ↩︎
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Vgl. Hexaemeron II bes. 8 und 28–34. ↩︎
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Itinerarium VII, 6. ↩︎