Theologie als Nachfolge

Bonaventuras Grundgedanke philosophischer Gotteserkenntnis

Unser nächster Schritt mit Bonaventura begibt sich auf seinen Weg philosophischer Gotteserkenntnis. Sie hat vielerlei Gestalten, Schattierungen, eine reiche Bandbreite von ihm angedeuteter oder ausgeführter Möglichkeiten. Dennoch gravitiert diese Fülle auf einen Schwerpunkt hin. Unter vielen möglichen Wegen gibt er einem den deutlichen Vorzug, trägt sich einer in die Grundstruktur seines Gedankens im Ganzen ein. Wir stellen ihn dar anhand des fünften Kapitels des Itinerarium, wo nicht nur seine [137] spekulative Dichte, sondern auch sein Kontext im Denken und in der Existenz besonders transparent werden. In der Dynamik des Aufstiegs zu Gott, die das Itinerarium gliedert, blickt Bonaventura zuletzt, im 5. und 6. Kapitel, in das Über-uns, in jenes Licht, durch welches und in welchem uns Gott als Gott aufgeht. Durch dieses Licht hindurch, von außen, erscheint uns Gott als der Eine und Seiende – Bonaventura verknüpft seinen philosophischen Gedankengang mit dem alttestamentlichen Gottesnamen „Ich bin, der ich bin“, der von ihm der Tradition gemäß verstanden und übersetzt wird „Ich bin der Seiende“. In diesem Licht, von innen, von seinem Ursprung her, wie er sich in der neutestamentlichen Offenbarung erschließt, erscheint Gott als der Dreifaltige – Bonaventura verankert dies in dem Schriftwort „Nur einer ist gut, Gott allein“ und legt es auf den immanenten Selbstüberstieg, die immanente Selbstmitteilung Gottes, eben die Trinität hin aus.1

Für Darstellung und Verständnis des roten Fadens, der die philosophische Erörterung im 5. Kapitel des Itinerarium durchzieht, ist einmal der Grundgedanke (V, 3), zum anderen die doppelte Dramatik in der Durchführung dieses Grundgedankens (V, 4-8) von Belang: In dieser Dramatik werden Selbstverständlichkeit und Unselbstverständlichkeit, Rationalität und Qualität des Gotterkennens, aber auch Zugang zur Wirklichkeit Gottes und Auslegung dieser Wirklichkeit Gottes auf das Wesen des Einen Gottes hin erschlossen. Bonaventura lädt zunächst ein zu einem Gedankenexperiment. Er bittet den Leser, seinen Blick festzumachen auf den Gedanken „das Sein selbst“, und er ist dessen sicher, daß am Ende dieses Gedankenexperiments die Überzeugung steht, dieser Gedanke sei kein bloßer Gedanke, sondern erschließe Erkenntnis der Wirklichkeit von Sein selbst. Das Experiment umfaßt folgende Schritte: Sein selbst, Sein in ungetrübter Reinheit, läßt sich nur denken unter Ausschließung von all dem, was der Sache nach Minderung von Sein, der Form nach aber Zusatz zu Sein ist; wer Sein und noch etwas dazu gedacht hat, hat nicht Sein selbst, reines Sein gedacht. [138] Ein zweiter Schritt versucht nun, das Gegenteil zu denken: Nichts. Nichts habe ich wahrhaft aber nur dann gedacht, wenn jede Spur von Sein hinweggedacht ist, wenn ich Nichts und sonst nichts gedacht habe. Der dritte Schritt bleibt beim zweiten und deckt seine Tiefe auf: Nichts denke ich als Verneinung von Sein, bezüglich auf Sein. Ich habe im Grunde, wenn ich Nichts denke, immer bereits Sein gedacht. Der Eindruck, dieses Experiment lasse sich umkehren, ist Schein. Ich habe nämlich schon „Sein“ gedacht, wenn ich Nichts denke; ich muß aber nicht Nichts gedacht haben, um Sein zu denken. Das Führende und Bestimmende in allem, was ich denke, ist der positive Pol, ist Sein, und das, was ich sonst noch denke außer Sein, ist eine Minderung von Sein. Sobald ich etwas denke, was nicht einfachhin Sein ist, denke ich es im Unterschied von Anderem, denke ich insofern etwas mit, was dieses da nicht ist; wenn ich nur noch Sein denke, denke ich zwar das, was das schlechthin Andere gegenüber jedem „nur dieses da“ oder „nur jenes da“ darstellt und doch alles das, was dieses und jenes ist, in sich birgt. Der Gedanke „reines Sein“ ist der Gedanke reiner, grenzenloser Fülle. So folgt ein weiterer Schritt: Ich erkenne, daß ich nur von solcher Fülle, nur vom je Verstandenhaben jener Fülle das Einzelne, das „dieses da“, das an sich auch nicht sein könnte, kurzum jenes, was nicht diese Fülle selbst ist, verstehen kann. Das Vor-verstandene in allem Verstehen und Erkennen ist reines Sein, Sein selbst als grenzenlose Fülle. Somit ist reines Sein jenes, was vor allem Anderen uns „eingefallen“, in unseren Intellekt hineingefallen ist, jenes, von dem her er immer schon kommt, wenn er zu dem Vielen ausgeht, auf das er fragend, suchend, erkennend sich spannt. Fragt man aber nach – nochmals ein weiterer Schritt –, wodurch, woher solche Fülle des Seins, die doch zugleich Reinheit des Seins – Sein und sonst nichts – ist, uns eingefallen, in unser Verstehen eingedrungen sein kann, welche Prämissen dieses Urverstandene haben könne oder müsse, dann zeigt sich: keine anderen als sich selbst. Denn jede andere Prämisse, jedes Frühere oder Größere könnte nur wiederum auf Sein zurückgeführt werden; von Sein aus allein ist alles zu denken, Denken selbst ist Her- [139] kommen von Sein, und so ist mit dem Gedanken des Seins in seiner Fülle zugleich das schlechterdings Anfängliche gedacht. Nun aber kommt die Gegenfrage, ob solche Fülle ein bloßer Gedanke sei. Im bloßen Gedanken wäre die Möglichkeit solcher Fülle gedacht; weil Möglichkeit aber in der Dimension des Gedankens „Sein“ – nicht in der Dimension irgendeines anderen Gedankens – weniger ist als Wirklichkeit, weil der Gedanke Sein Wirklichkeit selber meint, denkt der Gedanke, daß die vom Denken zuerst gedachte Reinheit und Fülle des Seins ein bloßer Gedanke sei, gar nicht ganz, was er denkt; er unterbietet sich selbst, er faßt sich selbst und somit das Denken selbst nicht in seiner Wurzel, nicht in dem, wovon es je schon herkommt. Der Gedanke Sein, der Begriff Sein ist als solcher der einzige Gedanke und Begriff, der von der Erfahrung dessen, von der wirklichen Begegnung mit dem herkommt, was er entwirft, was er denkt, wohin er langt. Was aber denkt dieser Gedanke, der als solcher kein bloßer Gedanke ist? Der Gedanke Sein weist zurück in den Gedanken Reinheit und Fülle des Seins – dies ist seine ursprüngliche Dimension; als Gedanke des Seins aber ist er Entwurf, Erwartung, ungedeckter Vorschuß bezüglich jedes einzelnen Dinges oder Gehaltes oder Geschehens, nicht jedoch bezüglich des Seins selbst. Der Gedanke Sein bezeugt Sein als das Andere des Gedankens, als das, was, indem es gedacht ist, das Denken allererst in Gang bringt und ermöglicht, als das, was ist. Somit deutet sich der Gedanke reines Sein, Sein als Fülle in seinem Ursprung als Gedanke reiner Wirklichkeit, als ihre Urkunde im Denken. Nicht Sein, das sich entäußern müßte ins Seiende hinein, nicht Sein als der bloße Erwartungshorizont von dem oder jenem, was ist und dieses ist und nichts Anderes ist, ist der erste Gedanke, besser: das, was sich im ersten Gedanken bereits zu denken gibt, sondern Sein selbst als „actus purus“, als reine Wirklichkeit. Im Gedanken des actus purus – der eben nicht bloßer Gedanke ist – sieht Bonaventura den Gedanken des möglichen Seins, den Gedanken des partikulären Seins und den Gedanken des analogen Seins – und wiederum nicht nur den Gedanken dessen – erst ermöglicht. So wird es für Bona- [140] ventura unabweislich, den Urgedanken des Seins als die Urgegebenheit an das Denken auszulegen, als göttliches Sein. Man könnte diesen Gedanken Bonaventuras als eine Vertiefung des ontologischen Arguments, wie es Anselm in seinem Proslogion formuliert hat, betrachten. Dieser geht vom Denken dessen aus, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, um aufzuzeigen, daß es nur dann als das schlechthin Unüberholbare gedacht wird, wenn es nicht nur als möglich, sondern als wirklich gedacht wird. Mit noch mehr Recht ließe sich sagen: Bonaventuras Gedanke ist die tragende Umkehrung des anselmischen Arguments. Zwar geht der Form nach auch Bonaventura vom Experiment des Gedankens aus, aber dieses Experiment ist bloß die Aufdeckung der Herkunft nicht nur dieses Experiments, sondern allen Denkens vom Anderen des bloßen Denkens, das, vom Denken unbedingt, einfachhin Sein, Sein aber als Wirklichkeit, als actus purus ist. Bei Anselm erscheint, wenigstens bei nur flächigem Lesen, dieses Unüberholbare als die unausweichliche Zukunft des Denkens, bei Bonaventura das reine Sein als die Herkunft des Denkens, die freilich – wie Bonaventura in anderem Kontext durchaus sieht – eben auch seine Zukunft ist, das, worauf alles Denken hinläuft. In solcher tragenden Umkehrung des ontologischen Arguments (die letzteres freilich als Konsequenz mit einschließt) ist Bonaventuras Gedanke aber auch tragende Umkehr für den Gedanken, der den fünf Wegen des Thomas, ihrem Durchstoß von der Struktur des kontingenten, nicht notwendigen Seienden auf seinen notwendigen, unbedingten Ursprung, zugrunde liegt: Wenn die Möglichkeit kontingenten Seins von der Wirklichkeit des Seins herkommt, dann eben auch, ja erst recht die erkannte Wirklichkeit kontingenten Seins. So ist es auch nur konsequent, wenn in anderem Zusammenhang Bonaventura den Gedanken des Arguments ex effectu, aus der Wirkung, aus dem Kontingenten, aufgreift. Um einen knappen Blick auf die nachfolgende Geistesgeschichte zu werfen: Wenn der späte Schelling das Denken auf der Urpositivität des reinen „Daß“ aufruhen läßt, das sich ihm sodann in jenen Vollzug hinein auslegt, ohne den dieses Daß gar nicht [141] in seiner Unzerstörbarkeit präsent wäre, und wenn er in solcher Aufhebung und Rekonstitution sein früheres, sein Identitätsdenken einholt, dann begegnen wir in Bonaventura, in anderem Klima, mit anderer Artikulation, einem bereits entsprechenden Gedanken. Dieser Gedanke bringt auch der Kritik Kants und der Anfrage Heideggers gegenüber einen – solche Kritik und Anfrage keineswegs überflüssig machenden, ihr dennoch widerstehenden – Überschuß entgegen: den Überschuß der besinnenden Schau, die allen nachträglichen Operationalisierungen und Verfügungen des Erschauten enthoben ist, ihnen ihre Relativität, damit aber auch ihr relatives Recht zumißt.


  1. Zum bisherigen vgl. Itinerarium V, 1 f. ↩︎