Theologie als Nachfolge

Bonaventuras Kontext: der je größere und je nähere Gott

Auch im Philosophischen ist für Bonaventura Gott zugleich der je größere und der je nähere. Das sei an einigen Aussagen veranschaulicht, die über den bislang interpretierten Text hinausweisen. Daß der gezeichnete Grundgedanke Bonaventuras im Itinerarium zugleich das ontologische Argument, den sogenannten Kontingenzbeweis und jenen aus der Unbedingtheit der ersten Wahrheit mitumschließt, haben wir bereits erwähnt.1 Wer „ist“ sagt, sagt für Bonaventura bereits in letzter Konsequenz „Gott“. [147] Wer Bedingtes als solches erkennt, hat damit bereits Unbedingtes vor-erkannt. Dies zu Ende denkend, sieht Bonaventura auch Atheismus – ohne daß dieser damit in allen seinen Dimensionen abgegolten wäre – als eine Fehl- und Zerrform ursprünglichen und unausrottbaren Gottbezugs. Der Mensch denkt „häufig etwas von Gott, was dieser nicht ist – etwa ein Götzenbild; oder das nicht, was er ist – z.B. ein gerechter Gott. Und weil jemand, der denkt, Gott sei nicht das, was er ist – z. B. gerecht –, damit auch denkt, er existiere nicht, so läßt sich aufgrund eines Begriffsfehlers denken, Gott oder die höchste Wahrheit existiere nicht; dies aber nicht schlechthin und allgemein, sondern nur als Folge …“.2

Der schärfste Einwand gegen eine so unmittelbare Verquickung von Erkenntnis und Gotterkenntnis, wie sie Bonaventura behauptet, liegt im Hinweis auf das Mißverhältnis zwischen Gott und dem Menschen, zwischen dem Woraufhin solcher Gotterkenntnis und ihrem Womit, der bloß endlichen menschlichen Erkenntniskraft. In der Auseinandersetzung mit diesem Einwand unterscheidet Bonaventura zwischen einem Begreifen Gottes, das der Mensch nicht leisten kann, weil Begreifen als Umgreifen ein Gleichgroßsein, ein Gewachsensein voraussetzt, und einem Erfassen (apprehensio), besser gesagt: einem Hinlangen der Erkenntnis an das, was sie nicht begreift; hier ist es das sie Übersteigende, die Wahrheit der zu erkennenden Sache, die sich von sich her zu berühren gibt, sich von sich her dem Erkennen öffnet, es in den eigenen Raum einläßt.3 Was ich nicht umfasse, vermag mich zu umfassen und darin sich mir, indem es mich einläßt, zu erschließen. Dennoch: Ist Gott nicht zu groß, sprengt er nicht die menschliche Kraft, muß der Mensch nicht eher geblendet sein von Gott, als daß er ihn sehen könnte? Gewiß, im Bereich der Sinne wird die notwendige Proportionalität zwischen Erkenntnisorgan und Erkanntem nicht nur durch ein Zu-klein, sondern auch durch ein Zu-groß zerstört; doch gibt es für die Spannung des Geistes aufs Ganze und Unbedingte nicht eigentlich ein Zu-groß; nur was zu groß ist, ist dem Geist groß genug.4 Die Tiefe, aus welcher gerade das zu Große, das Überproportionale dem Geist proportioniert sein kann, der Grund, warum das Auslangen nach dem [148] Höchsten nicht scheitert oder sich ver-mißt, ist freilich nicht die abstrakt betrachtbare Konstitution des Geistes, sondern die konkrete Beziehung des menschlichen Geistes zu dem, woraufhin er ist. Dieses Woraufhin ist nicht nur über ihm, sondern in ihm – und dies in doppelter Hinsicht: einmal als die Kraft, die den Schwung des Geistes eröffnet, geleitet und trägt, ja als die Kraft, die im Menschen selbst das trägt, was er zu tragen hat, wenn er die Last Gottes trägt – an dieser Stelle führt Bonaventura das Bild von dem großen Berg ein, der selber die Kraft gibt, ihn zu tragen, und so trag-barer wird als ein kleiner; zum anderen aber auch als die Erfüllung, als die Integration der menschlichen Kraft, ja des Menschseins in sich selbst. Wäre Gott ein bloß äußerlicher Gegenstand, so würde er die Identität des Menschen von ihm wegsprengen, Selbstüberstieg würde zur Selbstentfremdung, zum Selbstverlust. Gott aber übersteigt, transzendiert den Menschen als das, was ihm innerlicher ist als er sich selbst, und so ist die Transzendenz auf ihn hin zugleich Transzendenz zu sich selbst, Sammlung in die eigene Mitte, Vollendung der eigenen Einheit.

Im Kontext solcher lebendiger Beziehung, in welcher Gotteserkenntnis allein geschieht und gelingt, muß auch das bonaventuranische Motiv von der angeborenen Gotteserkenntnis, von der angeborenen Gottesidee verstanden werden.5 Sie ist nicht einfach ein Bild, das wir mit uns herumtragen, sondern ein Blick, in dem wir angeschaut sind und in dessen Licht schon jeder unserer Schritte geschieht. Das kommt auf doppelte Weise zum Zug. Einmal ist dieser Blick unser Wovonher, zum anderen unser den Anfang bereits bestimmendes Woraufhin. Das Erkennen kommt nicht aufgrund eigener Verarbeitung dessen, was es zuvor schon erkannt hätte, was es zuvor schon wüßte, zu der Idee Gott; sie ist nicht Ergebnis einer Abstraktion oder Konklusion. Sie ist vielmehr die Einholung dessen, was in uns je schon größer ist als wir selbst, größer aber nicht aufgrund eigenen Entwurfs über uns hinaus, sondern im Gerufensein über uns hinaus. Das Bild Gottes, das unsere Erkenntnis in sich trägt – und dann freilich verwandelnd ausgestaltet –, ist im Ursprung ein eingesenktes Bild, ein zugerufenes Wort, in dem Gott sich in sein Anderes hinein abbildet [149] und zusagt. Erweis dessen, daß nicht wir uns dieses Wort zurechtgemacht haben: Dieses Wort, dieses Bild steigert uns, verändert uns über unser Eigenes hinaus, indem es uns zum Eigenen bringt.6 Gerade das Unruhigsein auf einen Frieden hin, der größer ist als unser Begreifen und Entwerfen, das Gezogensein von einem Ziel, das sich durch keine unserer äußeren Erfahrungen deckt und einlöst, ist für Bonaventura der Widerhall des Anfangs in uns, der größer ist als wir selbst und von dem unser Denken und Sein herkommen. Auch die natürliche Gotteserkenntnis hat so teil an jenem Wegcharakter, der die Theologie Bonaventuras prägt. Bereits als Denkende, die ihr Denken und im Denken ihr Sein verstehen, finden wir uns auf einem Weg, der sich in der geschehenden Nachfolge des Herrn schließlich einholt, der in ihr unser Integriertsein durch das Evangelium des Friedens entdeckt.


  1. Vgl. vor allem die Texte, die É. Gilson in seinem Buch „Philosophie des hl. Bonaventura“ unter dem III. Kapitel, Die Evidenz Gottes, S. 137–159, bes. mit den Anmerkungen S. 582–594, zusammenstellt. ↩︎

  2. I. Sent. 8, 1, 1, 2 Conclusio. ↩︎

  3. Vgl. I Sent. 3, 1, 1 ad 1. ↩︎

  4. Hierzu und zum folgenden siehe I. Sent. 1, 3, 1 Conclusio ad 2. ↩︎

  5. Vgl. z.B. De mysterio Trinitatis I, 1 Concl.; auch I, 1, 6–8 und 10. ↩︎

  6. Vgl. I. Sent. 3, 1, 1 Conclusio ad 5. ↩︎