Die Suche nach dem Bruder

Bruderschaft in anderen grundlegenden Weisen menschlicher Beziehung*

Diese Brüderlichkeit unterscheidet sich von der bloßen Solidarität der Geschöpfe. Was über sie in der Bruderschaft hinausgeht, läßt sich in dem Stichwort „Erbe“ andeuten. Zeugung und Elternschaft sind keine das äußere Leben zwar bedingende und konstituierende, aber vorübergehende Episode, sondern ein bleibender Anspruchs- und Geschickraum. Menschen, welche Brüder sind, sind Brüder, indem sie auf dasselbe Erbe bezogen sind. Die Elternschaft ist nicht erledigt, wenn die Kinder auf eigenen Füßen stehen können, sondern sie bleibt ein Anspruch, den es zu übernehmen gilt. Ein Anspruch, der weitergelten will, der geschichtlich weitergetragen werden will, dargestellt und gefaßt im einen Erbe, das weiterwähren will durch die Ge-[31]schichte: solches vereint die Brüder, nimmt sie zusammen, in ihnen wächst die Einheit und Selbigkeit des Geschlechtes.

Vergleichen wir die so umschriebene Bruderschaft einmal mit anderen grundlegenden Weisen mitmenschlicher Beziehung. Die eheliche Partnerschaft etwa ist doch wiederum anderer Art, denn sie ist geschickhaft nur auf Grund der Wahl. In der Beziehung zwischen Mann und Frau, die sich finden, ergänzen sich Mann und Frau; der andere ist Erfüllung. Gegenüber ist das gesuchte Bild der Sehnsucht des eigenen Ich. Ihre Einheit krönt sich in der Zukunft: im Kind. Beide erwählen sich, um miteinander ganz zu sein. Brüder haben sich nicht erwählt, Brüder sind sich durch Anspruch und Geschick gegeben. Sie machen sich nicht erst zur Einheit, sondern sie sind schon Einheit, und ihr eigenes Wollen und Wählen steht auf dem unablöslichen Boden, schon zusammengehören zu müssen. Ihre Einheit wächst auf dem, was schon ist. Bruderschaft ist anfängliche Verpflichtung ins eine Geschick. Das unterscheidet sie auch von der bloßen Freundschaft, in welcher wiederum zwei sich erwählen, sich erwählen aber nicht, um sich wie Partner zu erfüllen, sondern um freie Weggenossen zu sein, um den selbstgewählten Weg miteinander leichter und freier gehen zu können, als man ihn einsam gehen könnte. Freunde gehören sich auf demselben, selbstgewählten Weg. Brüder aber gehören aus dem Ursprung, der ihnen nicht gehört, zusammen. In die Wahl der Brüder ist es nicht gestellt, Brüder zu sein oder nicht zu sein. Gewiß, man sagt von Freunden, die sich besonders nahestehen, sie seien wie Brüder. Und was meinen wir damit? Wir meinen damit, daß ihre Wahl, sich gehören zu wollen, ihnen zur zweiten Heimat gewor-[32]den sei, daß sie so geschickhaft bereits aufeinander eingestimmt seien, daß es sozusagen nur noch ein Ursprung ist, eine Quelle, aus der sie leben und schöpfen, ein Spielraum ihres Wesens, in dem sie aufeinander eingespielt sind. Ihre unzerreißbare Einheit muß sich nicht mehr durch ihre Wahl, nicht mehr durch ihren werbenden Entscheid immer neu bewähren, sondern ist eine Tatsache, die aus sich selbst den Anspruch erhebt, für immer als ursprünglich zu gelten. Wenn wir so die Bruderschaft miteinander betrachtet haben – und ich muß gestehen: es ist vielleicht eine recht allgemeine und abstrakt erscheinende Betrachtung geworden, die indessen erst die weiteren Schritte unseres Bedenkens trägt –, so fällt uns eine eigentümliche Ambivalenz, eine eigentümliche Doppeldeutigkeit der Bruderschaft auf.