Die Suche nach dem Bruder
Bruderschaft und Dienst*
Nur auf solche Weise vermag auch unsere Liebe gültig als die Liebe Christi anzukommen beim Menschen. Jesus hat als Bruder nicht nur die eine Last auf sich genommen, er hat uns den einen Geist geschenkt. Aus seinem Tod strömt nicht nur das Blut auf uns zu, es strömt auch der Geist über uns, der eine Geist, in dem [46] er mit dem Vater verbunden ist und in dem wir als die Brüder im Sohne sind und so wirklich in Christus und durch ihn dem Vater unmittelbar begegnen dürfen. Die Einheit des Geistes, dieses, daß wir nicht nur eine Last miteinander zu tragen haben, sondern daß wir wirklich die Partner der einen Liebe sind, daß der eine „Mutterschoß“ sich uns auftut, daß wir umfangen sind von der Atmosphäre Gottes, daß sie da ist in der Welt, dies steht in unserer Brüderlichkeit, in der sich die schöpferische Atmosphäre Gottes auf uns ausdehnt. In ihr gelingt es, den anderen so anzunehmen, wie er ist, aus der Liebe und aus dem Wissen, daß er schon angenommen ist. Und dies eben gehört in die ganze Gestalt der Brüderlichkeit mit hinzu: Freude des Geistes und Einheit des Geistes. Denn nur aus der Einheit des Geistes vermag uns die Kraft zu erwachsen, alle Last als die unsere mitzutragen, und nur aus der Bereitschaft, die Last der anderen mitzutragen, werden wir erwachen in diese beglückende Einheit der neuen Stadt des einen Geistes, der uns wirklich alle zusammenhält und zur großen, einen, brüderlichen Gemeinschaft macht. Und doch – so scheint mir – stehen wir immer und immer wieder in der Not, unzufrieden zu sein mit uns selbst, mit uns selbst und mit dem kleinen Anteil, der uns nur zugefallen ist. Wir scheinen immer wieder zurückgeworfen zu sein! Ja, ich bin nur so klein und nur so eng, ich bin so arm und so schwach und ich bin nur ich selbst, ich komme nicht über mich selbst hinaus. Immer und immer wieder scheint diese Schöpfungssituation der Not und der Enge nicht aufgehoben zu sein in uns. Aber ich meine, daß gerade eine, die in besonderer Tiefe unsere Schwester geworden ist, in unserer Zeit uns hierzu ein beglückendes Wort zu sagen hat. Ich denke an Therese [47] von Lisieux. Sie macht einmal dieses Martyrium des Gedankens mit. Sie ist unzufrieden, nur diese kleine Klosterfrau zu sein, sie ist unzufrieden, die Berufung Gottes, diese große und weite, nur auf so lächerliche kleine Weise zu besitzen. Sie möchte alles werden, sie möchte Priester werden, sie möchte Apostel sein, Missionar, alles – sie möchte die ganze Fülle dessen, was der Geist in der Kirche angelegt hat, in sich selber umfassen. Ihr Wunsch findet keine Stillung darin, daß sie das 12. Kapitel des Ersten Korintherbriefes liest, in welchem geschrieben steht, daß nicht alle zugleich alles sein können, sondern daß jedes Glied sich bescheiden muß mit seinem einen Dienst. Sie findet darin keinen Frieden und liest so weiter bis zum 13. Kapitel, in welchem der Apostel sagt: „Aber noch einen besseren Weg will ich euch weisen: Wenn ich alle Gnadengaben hätte, aber die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“ Und da erkennt sie die wahre Lösung. Die Liebe ist alles, die Liebe umfängt alle Berufungen; der, der die Liebe hat, hat den Geist, hat Gott, hat die Fülle; in ihr sind alle Berufungen enthalten.1
Was bewirkt denn, daß der einzelne seinen Dienst erfüllt, was anderes letztlich als die Liebe? Und es ist dieselbe Liebe, die die Apostel und die Priester und die Laien und die Helfenden und die Dienenden zusammenfügt. Die eine und selbe Liebe. Wenn ich diese eine Liebe habe, dann ist es gleichgültig, wo ich stehe, ich besitze alles, bin erfüllt vom ganzen und einen Geist und kann gerade deswegen meinen kleinen und bescheidenen Dienst erfüllen, bin gerade deswegen bereit und fähig, mit meiner kleinen Stellung und mit meiner kleinen Kraft zufrieden zu sein.
[48] So gut meint Gott es mit uns, indem et uns seinen Geist gibt. Er erfüllt überreich alles das, was in menschlicher Brüderlichkeit angelegt ist, denn er gibt uns in diesem Geist die Einheit, so wie er mit dem Vater eins ist (vgl. Joh 17,21). Darum hat er ja uns und den Vater gebeten im Hohenpriesterlichen Gebet, und so löst er alle Enge und Beschränktheit auf, in welcher wir menschlich stehen, er gibt uns die Weite Gottes selbst. Wir sind, jeder von uns, ganz und gar und „ausschließlich“ der Einzige im Herzen Gottes, aber wir sind es gerade dadurch, daß wir uns unseren Brüdern geben.
Ich glaube, es ist nicht notwendig, die Folgerungen aus dieser Betrachtung auf Ihren Beruf zu ziehen. Selbstverständlich ist jede Berufung eine andere, aber wie diese Berufung auch aussieht, sie ist Berufung der Brüderlichkeit in Jesus Christus. In ihm bin ich selbst geliebt, ich bin nicht einer, der sich nur tragisch verlieren müßte, einer, der kein Recht mehr hat, er selbst zu sein, nein – denn am Anfang steht, daß ich geliebt bin, mein Ursprung ist das Ja, das Gott mit sich selbst, mit seinem einzigen Sohn zu mir gesagt hat, und das eben ist die persönlichste Sphäre meiner Geborgenheit, meines Zufriedenseins. Ich werde nicht aus mir selbst herausgeworfen, um nur so durch das Helfen an anderen selber gelöst zu sein und meine eigene Armseligkeit zu vergessen, nein, ich selbst bin erlöst und darf mein Erlöstsein, wenn es noch so schwach, noch so klein und armselig in meinem Glauben lebt, ich darf dieses Erlöstsein, ich darf dieses Wissen, daß Gott mich geliebt hat, zu den anderen tragen.
Und was werde ich so in meinem Dienst am anderen? Was werde ich so in dieser Brüderlichkeit, der es nicht mehr darauf ankommt, ob der andere die Schuld be-[49]gangen hat oder ich sie beging, ob der andere das Gute tut oder ich es tat, der es nur noch darauf ankommt, daß im Geist die eine Liebe getan wird? Ich werde dem anderen zu einem, der mit ihm seinen Weg geht und der im stillen Teilen seiner Last das ist, was der Bruder ist: Sakrament des Ursprungs, der Gruß des Vaters an den Bruder.
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Vgl. Therese von Lisieux: Selbstbiographische Schriften, Einsiedeln 1958, S. 197-201. ↩︎