Caritas – eine theologische Reflexion zwischen Konzil und Synode

Caritas in den Bedingungen der Gesellschaft

Verständnis und Vollzug der christlichen Liebe sind in die gezeichnete Situation, in ihre Widersprüche und Vielschichtigkeiten eingebettet. Doch nicht nur das Ja oder Nein zur Liebe als Grundkraft christlicher Existenz oder die verschiedenen Interpretationen dessen, was Liebe bedeutet, bestimmen die Situation. Liebe ist zwar als Akt der Freiheit immer Selbstbestimmung; sie ist aber Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung; denn sie ist Zuwendung zu dem, dem sie gilt, schafft dem, der geliebt wird, Raum, damit er sei, der er ist. Dann aber kann der Liebe in ihrem Vollzug und in ihrer Äußerung nicht gleichgültig sein, wie es konkret um den Menschen und um die Gesellschaft bestellt sei. Liebe als Caritas im engeren Sinn, als sich äußernde, sich organisierende Liebe ist mitgeprägt von den humanen und gesellschaftlichen Bedingungen, in die sie trifft. Wie läßt sich der Wandel der Situation, den Caritas hier zu bestehen hat, in knappen Konturen zeichnen?

Unsere Gesellschaft ist ungleich mehr als früher rationalisierte Gesellschaft. Die Abhängigkeit aller von allen in Produktion, Konsum, Kultur und jedweder Möglichkeit und Äußerung des Lebens macht es notwendig, die Lebensräume und Lebensmöglichkeiten gezielt zu planen und für den einzelnen durch einen übergreifenden Zusammenhang zu vermitteln. Not und Hilfe erhalten Weltdimension. Zugleich verliert die Not jedoch das klassische Gesicht der Bedürftigkeit – wenigstens dort, wo die Rationalisierung der Gesellschaft schon fortgeschritten ist; und wo sie es nicht ist, kann durch bloße punktuelle Nothilfe gerade keine wirksame Besserung geschaffen werden. Hilfe verliert dadurch aber immer mehr den Charakter des durch ungeschuldete Güte und Barmherzigkeit Geschenkten, sie wird mehr und mehr zum rationalen Dienst an einem weltweiten Ausgleich und einer weltweiten Entwicklung, in der es zugleich um das Interesse dessen geht, der hilft, da er ja von der einen und unteilbaren Situation des Ganzen nicht ausgenommen ist. Caritas wird Dienst an der Gerechtigkeit, wird Solidarität.

Dies ist indessen nur die eine Seite von Not und Hilfe. Denn durch die Rationalisierung der Gesellschaft, ja des ganzen Lebens brechen zugleich neue Arten von Not auf: Einerseits entstehen neue Klassifizierungen, in denen jene, die an die rationale Entwicklung nicht angepaßt sind, weil sie aus anderen persönlichen oder sozialen Bedingungen stammen, zur Minderheit und Randgruppe werden. Andererseits gerät der einzelne, gerade auch der vollkommen Angepaßte und Mitfunktionierende, in neue Not, in die Not um seine Freiheit. Die vielfache Klage über die „Gewalt“ mitten in Wohlstand und äußerer Freiheit, der verbreitete Ekel am Dasein, der plötzliche Ausbruch aus der Ordnung ins Exzessive und Rauschhafte, der laute Protest und der stumme der Flucht ins Kranksein, ins Kranksein am Sinn, sind Zeugnisse dieser Not. Gerade hier kann aber mit rationalisierten Maßnahmen, mit bloßer, wenn auch über frühere Maße und Vorstellungen hinaus entwickelter Gerechtigkeit nicht geholfen werden. Die Bedrohung der Freiheit und die Ortlosigkeit des einzelnen in der rationalisierten Gesellschaft rufen nach einer Hilfe, die nur frei und personal, wenn auch nicht isoliert und planlos, geleistet werden kann.

Das Fazit: Caritas muß sich heute einfügen in den Dienst an der Gerechtigkeit, der ein weltweites, rationales und funktionales Planen erfordert; Caritas darf sich aber nicht in solcher Rationalität und Funktionalität erschöpfen, sondern gerade um der Zeit und um des Menschen willen muß sie den Charakter der freien, personalen, unverrechenbaren Liebe wahren. Auch Caritas steht so in jener Spannung, die unsere Zeit im ganzen prägt und der der Mensch aus sich selbst so schwer nur gewachsen, von der er konstitutionell überfordert ist. Grund und Kraft der Caritas ist so nicht das, was Menschen können, sondern der Glaube an das, was Gott kann und tut, der Glaube an seine Liebe.