Christliche Spiritualität in einer pluralistischen Gesellschaft

Chancen für die Zeit – Chancen für das Christliche

Das unterscheidend Christliche scheint nicht in das Klima unserer pluralistischen und nachpluralistischen Epoche zu passen. Es ist provokatorisch. Solche Provokation indessen ist eine Chance.

Eine Chance für das Christliche, für die Kirche, aber auch für diese Zeit und diese Gesellschaft.

Fangen wir hiermit an. Der Glaube ans fleischgewordene Wort ist ein unzerstörbarer Grund, der über alle Umbrüche und Fragwürdigkeiten hinweg die Identifizierung mit dem Menschen und der Welt trägt und es doch erlaubt, den kritischen Abstand zum Aufgehen in den Mechanismen und Funktionalismen von Welt und Gesellschaft zu wahren. Der Glaube an das fleischgewordene Wort ermöglicht zugleich den Einklang der Selbstfindung, um die es dem Menschen heute in allen Entfremdungen und Bedrohungen seiner Identität geht, mit der Selbsthingabe, ohne die Menschsein und Gesellschaft in sich selbst versinken. Der Glaube ans fleischgewordene Wort bietet die Alternative zur Einsamkeit des sich selbst umkreisenden einzelnen, zur Einsamkeit auch der mit sich allein beschäftigten Gesellschaft, zur Einsamkeit schließlich, die Gespräch und Beziehung im bloßen pluralistischen Nebeneinander zu ertöten droht. Im Glauben ans fleischgewordene Wort ist das „prós“, das Auf- [110] einander-zu und Über-sich-hinaus erschlossen, das solche Einsamkeit sprengt.

Nicht weniger provokatorisch, nicht weniger notwendig ist es indessen, die Botschaft vom Wort im Fleisch als Chance und Aufgabe für unser Christsein heute zu lesen. Nennen wir die Fragen, die sich hier stellen: Ist das Maximum des Christlichen bereits formuliert im Johannesprolog, bereits formuliert im trinitarischen und christologischen Dogma? Ja und nein. Evangelien und Dogma sind keine überholbaren Stadien auf dem Weg des Christlichen durch die Geschichte, sie sind unerläßlich, um dem Ursprung zu begegnen. Aber blieben nicht zwei fundamentale Aufgaben bisher in der Geschichte des Christlichen noch ungelöst?

Die Übersetzungen der Urbotschaft rückten bislang noch nicht jene Beziehentlichkeit, jenes prós, jenes Aufeinander-zu, worin doch das Eigene und Neue des Christlichen besteht, in die Mitte ihrer Denk- und Sprachansätze.

Und zum andern: Es gelang zwar, gegen Versuchungen und Irrwege spätantiker philosophischer Verfremdungen die Wahrheit vom menschgewordenen Wort und vom dreifaltigen Gott in den Konzilien des 4. und 5. Jahrhunderts auf den Begriff zu bringen. Doch ist dreifaltiges Zueinander, ist das Zugleich des Hin-Seins zu Gott und des Hin-Seins zueinander und des Hin-Seins zur Welt, ist – wenn man so will – die Botschaft des Johannesprologs noch nicht transparent als die Wahrheit und der Maßstab für unser gesellschaftliches Leben und Handeln, für unser Dasein miteinander und für die Welt. Vielleicht wäre gerade hierfür heute die Stunde.