Einheit als Leitmotiv in „Lumen Gentium“ und im Gesamt des II. Vatikanums

Charaktere der Einheit

Wer sich auf die Aussagen des II. Vatikanischen Konzils über die Einheit einläßt, der ertastet etwas wie einen Rhythmus, der sieht etwas wie eine Struktur geschehender Einheit vor sich. Diese Struktur und ihr – sagen wir so – Rhythmus bedürften reflexiver Aufarbeitung, die im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden kann. Vermutlich wäre es auch zu früh und zu riskant, schon jetzt aus der Theologie des „Übergangs“, als die uns die Konzilstheologie erschien, derlei weittragende Konsequenzen zu ziehen. Dennoch darf so etwas erspielt werden wie ein Zusammenhang der beobachteten Züge jener Einheit, die als Grund und Ziel und Geschehen, wir dürfen sagen: selbst als Übergang zwischen ihren Polen, sich uns zutrug. „Standort“ für unseren Versuch beziehen wir zunächst nochmals beim Anfang der Dogmatischen Konstitution über die Kirche, von da aus freilich auch Momente anvisierend, die uns im Weitergang von dort auffielen.

a) Einheit geschieht im doppelten Überstieg: im Verdanken und Mitteilen. Wir beobachteten: die Kirche empfängt sich von Christus her und geht zugleich mit ihm in seiner Bewegung zur Menschheit hin. Sie hat ihren Schwerpunkt zweifach außer sich: in Christus, in der Menschheit. Gerade darin aber ist sie in sich selber, empfängt sie ihre Identität, ihre Einheit. Einheit ist Ursprünglichkeit und Zukommen der Ursprünglichkeit. Dies gilt von allem, was ist, sofern es ist. Auch dem rein Entsprungenen, dem anscheinend nur zukommt zu sein, kommt eben im Sein jene mitteilende Selbsttranszendenz des Seinsaktes zu, die das Sein als Empfangenes bezeugt. Der Rücktrag in den absoluten Ursprung scheint die Dimension des Empfangens und Verdankens auszuschließen – im Versuch, diesen Ursprung trinitarisch zu denken, gehört indessen auch zur primitas des Vaters deren expressio als Wiedergabe hinzu, auch Ursprünglichkeit als reine Gabe schließt die Wiedergabe als Vollendung gerade der Ursprünglichkeit mit ein. Das Aufregende bei dieser Sicht von Einheit: nicht die Bewegung auf sich selber zu, sondern von sich selber weg ist der Unterschied zwischen null und eins.

b) Einheit geschieht gerade in solchem Sich-Übersteigen als Einheit von Einung und Unterscheidung. Indem Kirche reiner Spiegel des Christus lumen gentium ist, indem Kirche das Geschehen der Selbstübersteigung des Lichtes im Weitergeben an die Menschheit ist, tritt sie in polare Beziehung zu dem, womit sie sich eint. Das Geschehen der Einung ist gerade kein Verlöschen, sondern bedeutet Sich-Einbringen. Es ist Mitvollzug der Bewegung des Ursprungs in der reinen Offenheit für ihn. Kirche konstituiert sich, indem sie sich empfängt und senden läßt. Seiendes ist nicht, wenn es nicht teilhat am Ursprung und ihn nicht zur Erscheinung bringt. Gerade darin aber [218] ist es und ist anderes, recht verstanden: mehr als der Ursprung. Einheit geschieht nicht als angsthaftes Bestehen auf einer zum Ursprung und zum Worumwillen des Daseins addierten Eigenständigkeit, sondern im Loslassen an den Ursprung auf seine intentio, auf sein Ziel hin. In solchem Loslassen geschieht die Konstitution der Eigenheit vom Ursprung her. Loslassen und Zur-Erscheinung-Bringen sind Selbstvollzug.

c) Einheit geschieht in solcher Konstitution als Gehen und Bleiben. Kirche tut nichts anderes, wenn sie missionarisch sich selber über sich hinausbringt, als in ihrem Ursprung zu bleiben. Und wenn Kirche sich hinausgibt und hinauswagt in die Welt, bleibt sie gerade beim Herrn. Sie kann nicht das eine gegen das andere wählen, wohl aber gilt es, das andere im je einen zu wählen. Der Rebzweig, der im Stamm des Weinstocks bleibt, bringt dessen Frucht. Nichts ist progressiver als das Bleiben im Ursprung, nichts konservativer als die Zuwendung zum anderen. Natürlich kann solches als Gedankenspielerei gesagt werden, es vermag aber zugleich höchste und härteste Anforderung zu sein, um Einheit wahrhaft zu vollbringen. Wer ganz beim Urtext bleibt, den treibt er in die Übersetzung; wer wahrhaft übersetzt, der trägt den Urtext in sich und seinem Tun. Daß Einheit als diese doppelte Bewegung bewußt wird, daß Einheit als diese Spannung und zugleich als deren Einfalt transparent und lebendig ist, darauf kommt es an, soll Einheit nicht erstarren oder sich auflösen.

d) Einheit geschieht in der Wechselseitigkeit, im je doppelt ersten Schritt. Einheit ist nie Resultat eines Prozesses, der nur widerfährt; Einheit ist nie Produkt, das sich durch Aktivität und Anstrengung allein bewerkstelligen läßt. Kirche tut den ersten Schritt, indem sie mittut, daß der Herr den ersten Schritt getan hat. Ich tue auf den anderen den ersten Schritt zu, indem ich entdecke, daß und wo er sich mir schon geöffnet hat. Der Ansatz vom Nullpunkt aus, um den Ansatz des anderen vom Nullpunkt aus zu entdecken, dies ist die Aktivität und Rezeptivität der Einheit.

e) Einheit geschieht perichoretisch. Im Geschehen der Einheit umfängt jeder Pol den anderen, birgt ihn als sein Innerstes und birgt darin das ihn und den anderen Pol Einende, die einende Einheit selbst. Die Formeln von johanneischem Schrifttum bis hin zum Minnelied vom gegenseitigen Innesein sind sicher richtig. Kirche in Christus und in Kirche Christus entdecken, Welt in der Kirche und Kirche in der Welt, Welt in Christus und Christus in der Welt: von diesen perichoretischen Schritten kann nicht abgesehen werden, soll Einheit ihre Dynamik entfalten, soll Einheit gelingen. Die Erkenntnis dieses perichoretischen Charakters der Wahrheit ist auch für jede Weise von Dialog von entscheidender Bedeutung. Dies darf nicht als hermeneutischer Trick mißverstanden werden, der Auseinandersetzung, Aufdeckung [219] von Uneinheit und Widerspruch spekulativ überhöht und nivelliert. Dies wäre das fatale Gegenteil von Einheit. Doch nur wo solche Perichorese als Maß genommen wird, kann auch ihr Defizit entdeckt werden, kann die Verzehrung des anderen statt dessen Bergung offenbar werden, können Wege der Versöhnung und des Verstehens, die gegenseitig nicht entfremden, gefunden werden. Und umgekehrt ist die Einheit zwischen Getrenntem nur möglich, sofern der perichoretische Ansatz zur Einheit entdeckt wird. Bloßes Aneinanderfügen, bloßes Summieren und Addieren ergeben nie Einheit.

f) Einheit geschieht durch Repräsentation und Unmittelbarkeit zugleich. Einheit ist Übertragung des Ursprungs, Fürsein des Ursprungs fürs Ganze in einem anderen, in einem aus allem – und zugleich sind alle gemeinsam in der Beziehung zueinander in Beziehung gesetzt zum Ursprung selbst, er ist die gemeinsame Mitte. Beide Formen ergänzen sich, ersetzen aber einander nicht. Sendung, Übertragung der Vollmacht vom Ursprung her, Repräsentation Christi – und zugleich gemeinsame Christusunmittelbarkeit im Miteinander in seinem Namen, auf daß er in der Mitte sei: beides ist konstitutiv für Kirche. Spiegeln sich in diesen beiden Strukturmomenten, die genauer differenziert werden müßten, um das reale und konkrete Gefüge der Kirche zu kennzeichnen, indessen nicht fundamentale Verhältnisse von Einheit überhaupt? Unverwechselbarer Beitrag zum Ganzen, unverwechselbares Stehen fürs Ganze einerseits und darum anderseits Bezogenheit aller auf alle in der Bezogenheit auf die alles fügende Einheit, dies sind die beiden gleichzeitigen Konsequenzen aus dem perichoretischen Charakter der Einheit. Mut zur Stellvertretung und Mut zur Unmittelbarkeit, Mut, nur einer unter allen zu sein und zugleich doch fürs Ganze zu stehen, Punkt sein, der mit der Ausdehnung Null in der Oberfläche der Kugel verschwindet und der zugleich doch fähig ist, die ganze Kugel auf der eigenen Null zu tragen, solches gehört je zusammen.

g) Einheit geschieht als Heil und Heilung des Teiles und des Ganzen. Im Konzilstext wird die elementare Sehnsucht nach Heilsein als Sehnsucht nach Einheit – Einung der Menschheit mit Gott und miteinander, Einung des einzelnen mit den anderen und mit dem einen Herrn – sichtbar. Heilswille Gottes wird Einungswille Gottes, Einheit ist Ziel und Weg des Heiles und der Heilung. Die Heilbarkeit des Gebrochenen ist die Anwesenheit des Ganzen im Fragment, der Weg der Heilung geht über die Beziehung zur einen Mitte auf die anderen, die getrennt sind, hindurch, geht zugleich durch die Beziehung zu den anderen, den Getrennten hindurch auf die eine Mitte. Heilung geschieht dadurch, daß im anderen, im Getrennten die eine Mitte entdeckt und angenommen wird, Heilung geschieht zugleich dadurch, daß in der einen Mitte, im einen Geheimnis des Ganzen der andere, Getrennte [220] angenommen und entdeckt wird. Die Struktur dieses Vorgangs ging uns bereits auf im Bedenken der Perichorese als Grundfigur der Einheit.

h) Das angedeutete Verständnis von Einheit ist eine Alternative zu jedem mechanistischen, systemhaften oder additiven Verständnis von Einheit, aber es bezeichnet auch einen Überschuß über das bloß organische Modell. Dieses ist keineswegs ausgeschlossen, wird aber erweitert durch die spezifischen Momente des Geschichtlichen. Der Ursprung von Einheit geschieht eben durch einen Ursprung, durch unableitbare Selbstüberschreitung, ihr Ziel ist ebenso gekennzeichnet durch die Unselbstverständlichkeit, den Geschenkcharakter des Gelingens, und der Weg der Einheit ereignet sich in der Antwort, in der Treue zum Ursprung und im wagenden, hoffenden, liebenden Ausgriff zum Ziel. Solcher Charakter der Geschichtlichkeit von Einheit deutet sich an innerhalb des Konzils im Vorrang des Bildes von der Kirche als dem pilgernden Gottesvolk. Gegebene und aufgegebene Einheit sind umgriffen von der einenden Einheit Gottes, der sich als der Dreifaltige bereits erschlossen, als Zukunft zugesagt und darin als Halt in die Geschichte hineingesagt hat. Das Leben der Kirche als aus der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Geistes geeintes Volk geschieht nichtsdestoweniger je nur in der neuen Zukehr zum dreifaltigen Gott, zur Welt und zueinander in der Kraft jener Liebe, die reinstes Geschenk Gottes und freiestes Ja des Menschen zugleich ist.

Die Charaktere der Einheit, ihr Gang und Ereignis im Ganzen kennzeichnen zugleich als unitas quae den Inhalt, die Sache des Glaubens und der Kirche und als unitas qua den Weg, auf dem Kirche in der Welt und für die Welt über alle Trennung und Entfremdung hinaus Sakrament der Einheit zu werden vermag. Unitas quae und unitas qua zugleich – dies gilt zuhöchst auch für das Geheimnis des Vaters und des Sohnes und des Geistes selber, das die Mitte unseres christlichen Glaubens ist und zugleich das Maß jener Bitte des Herrn, daß alle eins seien wie der Vater und er, damit die Welt glaube (vgl. Joh 17,21ff). Nach einer Aussage Karl Rahners wird man sich „nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, daß die Christen bei all ihrem orthodoxen Bekenntnis zur Dreifaltigkeit in ihrem religiösen Daseinsvollzug beinahe nur ‚Theisten‘ sind. Man wird also die Behauptung wagen dürfen, daß, wenn man die Trinitätslehre als falsch ausmerzen müßte, bei dieser Prozedur der Großteil der religiösen Literatur fast unverändert bleiben könnte.“1 Dieses Defizit scheint durch die konziliare Theologie der Einheit überwindbar zu sein. Der Anteil Karl Rahners daran ist bedeutsam.


  1. K. Rahner, Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte, in: MySaS II 319. ↩︎