Unterscheidungen
Christentum: Ort der Offenheit in einer pluralistischen Gesellschaft*
Der Kosmos, das Ich, die Gesellschaft sind Stationen auf dieser Wanderschaft gewesen. Sie wurde von der Not um eine in die eigenen Hände des Menschen gelegte Zukunft in Gang gehalten und von der Ideologiekritik desselben Menschen immer wieder weitergetrieben. Wohin geht die Reise weiter? Und was vermag diese Reise auszusagen über das, was wahrhaft christlich heißt?
Es kann nicht darum gehen, zukünftige Entwicklungen aus den bisherigen abzuleiten. Wer dies versuchte, hätte sich für ein im Grunde „ungeschichtliches“ Verständnis der Geschichte vorentschieden. Ein Strang der säkularen Entwicklung – das zeigt sich an – führt aus der Verzweiflung an den unaufbrechbaren Verfestigungen der Gesellschaft zu einer nicht mehr evolutiven, sondern im Sprung oder Bruch erschwungenen Mystik der Zukunft, die zwar von der Gesellschaft her gesehen, aber als neue Unmittelbar- [105] keit einfachen, ursprünglichen Lebens gedeutet wird. Dieser Mystik der Zukunft tritt heute bereits eine andere, die Mystik der neuen Innerlichkeit zur Seite. Hier geht es nicht mehr um ein Später, nicht mehr um eine neue Gesellschaft; hier geht es um die Ausweitung des eigenen Bewußtseins, das sich transzendieren, das seine Identität mit sich im Nirgendwo suchen will. Hiermit ist freilich nur eine Komponente innerhalb eines vielfältigen Aufbruchs „nach innen“ gekennzeichnet, der heute allenthalben seine Spuren zeigt. Ein weiterer Strang allgemeiner Entwicklung leitet hin zu immer radikalerem Verzicht auf jeden sinngebenden Entwurf; was bleibt, ist die ideologiekritische Befragung jeder Daseinsdeutung, jeder umgreifenden Sinngestalt, die Ethik und Ästhetik der Deskription von Strukturen, allenfalls die stets rückrufbare Zerbrechlichkeit eines je neuen, je kritisch wieder zu negierenden Modells.
Diese Tendenzen haben ihre Aussagekraft. In ihnen setzt sich die Menschlichkeit des Menschen gegen Einseitigkeiten seiner Deutung durch, wenn auch solche Anti-Tendenzen je wieder zu neuen Einseitigkeiten tendieren.
Die Tendenz, die Eigentlichkeit des Menschen in der Zukunft zu suchen, bekundet die Unausrottbarkeit der Sinnfrage, die Unabschließbarkeit des Menschen im Nur-Jeweiligen. Die Tendenz der neuen Innerlichkeit bezeugt die Untrennbarkeit des Außer-Sich, auf das hin der Mensch angelegt ist, vom Zu-Sich: Transzendenz, die nur vom Ich weggeht, verliert den Menschen in seiner Bewegung über sich hinaus. Die ideologiekritische Distanz zu jeder Transzendenz, die Reduktion aufs Deskriptive stellen die rationale Unsicherbarkeit und Uneinholbarkeit jeder Sinngestalt heraus, auf die hin sich der Vollzug des Transzendierens entwirft.
Gegenüber der kritischen Bescheidung aufs Deskriptive erscheinen alle Systeme oder Antisysteme der Hoffnung, des – wie auch immer artikulierten – Transzendierens als überholt, als konservativ. Nicht selten konnte man im Verlauf der letzten Jahre eine Art eigentümlicher Waffenbrüderschaft von „Konservativen“ sprich: von Christen und Neomarxisten gewahren. Kann diese Waffenbrüderschaft, diese Weggenossenschaft fraglos hingenommen wer- [106] den? In Frage gezogen sind durch den Zug zur bloßen Positivität beide: beide müssen es sich gefallen lassen, daß ihre Deutung des Ganzen als zusätzlich zur Feststellbarkeit der Fakten und zur Aufweisbarkeit ihrer immanent sie verbindenden Strukturen, somit als im Grunde ideologisch kritisiert wird. Das Gegenargument, jedes Modell von Wirklichkeit und gerade auch die Beschränkung auf Fakten und Strukturen seien auch ihrerseits unausweisliche Vorentscheide, zählt in sich, es führt aber nicht zur Klärung, die zwischen beiden, zwischen christlichen und neomarxistischen Deutungsmodellen fällig ist.
Welches ist, gemessen am Vorwurf von seiten einer neopositivistischen Position, die unterscheidende Kontur des Neomarxistischen und des Christlichen? Die Kritik am Christlichen ist einerseits die umfassendere: Die Deutung der Wirklichkeit auf Hoffnung hin beruht im Fall des Christlichen im ganzen und durchwegs nicht auf einer Analyse der vorfindbaren Wirklichkeit. Erlösung im christlichen Verständnis ist das Gegenteil von immanenter Lösung geschichtlicher Prozesse durch sich selbst. Marxismus und Neomarxismus hingegen setzen bei der Analyse dieser geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozesse ein und interpretieren sie auf einen Zielwert hin, den sie zumindest approximativ von innen her zu erreichen hoffen.
Gerade darin liegt aber anderseits zugleich eine radikalere Infragestellung des marxistischen Modells. Wenn – gemäß den positivistischen bzw. ideologiekritischen und den christlichen Einwänden – Zukunft, Zukunft als innere Dimension des geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozesses, nicht das Haus des Absoluten, nicht von sich her die Tangente des totalen Sinnes zu sein vermag, reduziert sich ein aus marxistischer Ahnenschaft stammendes Gesamtmodell des Daseins auf ein tragisches Ethos. Es erzeugt einen Akt der Willentlichkeit, der geschichtlich allenfalls dilatorische Wirkung gegenüber der Offenbarkeit des Un-sinns hat. Der Mensch wird zur Insel, die sich selbst je neu dem Strom der Geschichte abringt, der in die Vergeblichkeit führt; gerade darin aber soll die Vergeblichkeit von innen her überwunden, soll der Strom, der in sie [107] mündet, zum Weg in eine menschliche Zukunft werden. Eine gewiß achtbare Sache. Bleibt indessen die Frage, ob der Versuch eines solchen tragischen Ethos, ob das Unterfangen, Sinn jeweils neu in die Matrize der umfassenden Sinnlosigkeit einzufügen und sie dadurch zu verwandeln, dem gerecht wird, was eine unbefangene Analyse der Phänomene zutage legt. Ist die Frage nach dem Sinn, der Drang nach dem Sinn, der auch hier dem Menschen zuerkannt wird, nur ein Verhängnis, das allenfalls die Freiheit des Menschen herausfordert? Sind solches „Verhängnis“ und solche „Herausforderung“ nicht Gegebenheiten, die zwar in der Freiheit des Menschen, aber so zugleich doch der Freiheit des Menschen gegeben sind? Darf der Mensch sich selbst und seine Geschichte, darf er seine und alle Gegebenheiten, darf er die Frage, die sein eigenes Dasein und seine eigene Freiheit und die Sein überhaupt ihm stellt, einfachhin abschieben? Fordert diese Frage, die er sich ist und die das Sein ihm ist, ihn nicht heraus, sie aufzunehmen und über sich selbst und über das Sein hinaus zu fragen? Zumindest die Offenheit für das Zeugnis einer Antwort, die nicht nur er selbst mit seiner eigenen Leistung sich gibt, gehört zur unverstellten Redlichkeit seines Daseins.
Was heißt dies aber bezüglich des Christlichen? Seine Situation ist eine andere als die des Marxismus. Das Christliche versteht das „Heil“, den in Jesus zugesagten Sinn des Daseins und der Geschichte, nicht als Resultat einer menschlichen Leistung oder eines innergeschichtlichen Prozesses, Christentum will nicht „Weltanschauung“ und nicht bloßes „Ethos“ sein, sondern Zusage Gottes, daß er unableitbar, ungeschuldet aus seiner Initiative her handelt. Und gerade deshalb, gerade um solcher „Freiheit“ des Heiles und der Zukunft von den analysierbaren Prämissen erfahrener Gegenwart willen ist das Christliche seinerseits nicht identisch mit irgendeiner hermeneutischen Gestalt, die das zugesagte Heil anvisiert von einer bestimmten Perspektive des Weltbildes, der Existenz, der gesellschaftlichen Entwicklung aus. Das Christliche verflüssigt jede dieser Gestalten wiederum zur Frage, die das Menschsein und in ihm das Sein überhaupt dem Menschen ist.
Das Christliche ist von daher seinem Wesen nach kritisch gegen [108] hermeneutische Absolutsetzungen: eines Weltbildes, eines Existenzverständnisses, einer nur evolutiven und horizontalen Betrachtung von Geschichte und Gesellschaft. Das Christliche ist aber auch dagegen kritisch, daß man von der Unherstellbarkeit des Daseinssinnes ableitet, es könne keinen solchen Sinn geben. Aber wo es sich selbst versteht, richtet es keine Verbotstafel vor einem Bezirk vorfindbarer Wirklichkeit auf. Es darf sein, was immer ist, darf sich zeigen, was sich immer zeigt. Das Ja Gottes zur Welt und zum Menschen ist nicht Resultat, sondern Geschenk, es gewährt sich nicht aus unserem, sondern aus eigenem Ursprung. Und gerade darum ist das Christliche der unabsehbaren Geschichte und ihren Gängen gegenüber offen. Gerade weil das Christliche sich auf eine Antwort gründet, die sich aus dem deskribierbaren Bestand und der ideologiekritischen Befragung der Wirklichkeit nicht herleiten läßt, teilt es die Distanz eines ideologiekritischen und deskriptiven Ansatzes gegenüber den Fixierungen endlicher Daseinsinterpretation. Es zieht aber auch die Fixierung eines ideologiekritischen und deskriptiven Ansatzes kritisch in Frage, weist auf deren unausgewiesenes „Vorurteil“ hin.
Zum Christlichen gehört also die Offenheit ins unabsehbare Nebeneinander und unabschließbare Nacheinander hermeneutischer Pluralität. Offenheit ist aber nicht Gleichgültigkeit. Das Ja Gottes läßt nicht zu, daß der Christ nein sage zu etwas, das ist und wie es ist. Aus dem Ja Gottes wächst ein positives und verbindliches Ethos des Ja.
Die Voraussetzungslosigkeit dieses Ja Gottes ist die Voraussetzung, von der aus der Christ sich in die eine und unteilbare Situation, in die Gegenwart seiner Welt, in die Verantwortung mit allen für alles und alle einläßt.
Dieses christliche Ethos der bedingungslosen Liebe hat sich – in letzter Zeit etwa beim Neomarxisten Vítězslav Gardavský1 und noch schärfer bei Alexander Mitscherlich2 – freilich die Kritik gefallen lassen müssen, es sei Überforderung, es pervertiere – so etwa Mitscherlich – ins Gegenteil, in die latent wuchernde Aggression. Gut, wenn christliches Ethos als Ethos in sich, als Forderung in sich verstanden würde – [109] durchaus. Doch christliches Ethos ist seiner Intention und seinem Ursprung nach genau das Andere. Es ist Antwort. Sie heißt Liebe, Ja ohne Grenzen, aber nicht weil das anständig, nicht weil das die höchstmögliche Zielvorstellung des Menschen von sich selbst ist, sondern einfach: weil er selbst geliebt ist und weil alle geliebt sind. Der 1. Johannesbrief sagt es so: „Darin besteht die Liebe, nicht daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt hat“ (1 Joh 4,10).
Die Diskussion der Differenz zwischen christlicher und marxistischer bzw. neomarxistischer Daseinsdeutung impliziert im Grunde auch die Diskussion der Differenz zwischen dem Christlichen und der sogenannten „neuen Innerlichkeit“. Eine sich absolut setzende Innerlichkeit droht weltlos zu werden, droht nicht alles sein zu lassen, was ist, droht den Ausgriff menschlichen Daseins aufs Ganze genauso zu verkürzen wie die Verlagerung menschlicher Transzendenz in die bloße Horizontale gesellschaftlicher Operation. Zudem impliziert eine bloße Innerlichkeit im Verzicht aufs Außen auch den Verzicht auf die Realität ihrer eigenen „immanenten“ Transzendenz: Wenn sich Transzendenz nur im Bewußtsein abspielt, ist solche Transzendenz Verzweiflung am Sinn und an der Gewähr des Sinnes. Daß derlei Kritik keineswegs alle jene Gestalten trifft, in denen heute Transzendenz im Gegenstoß gegen bloße Evolution neu gesucht wird, sei eigens vermerkt. Ursprüngliche Gestalten östlicher Lebensweisheit sind nicht im vorhinein als Verzicht aufs Außen, nicht als Einschluß ins bloße Bewußtsein abzuqualifizieren.
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Gardavský, Vítězslav: Gott ist nicht ganz tot. Betrachtungen eines Marxisten über Bibel, Religion und Atheismus, 4. Aufl., München 1970, 60f. ↩︎
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Mitscherlich, Alexander: Aggression ist eine Grundmacht des Lebens. Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, in: Der Spiegel 42 (1969) 206–212. ↩︎