Unterscheidungen

Christentum und Religion*

Hat dieser Ertrag unserer Untersuchung seine Bewandtnis allein für die theoretische Klärung der Frage, ob und wie Christentum Religion sei oder nicht? Die angestellten Überlegungen zielen, wenigstens auch, hinein in die konkrete Situation. Religion wird für viele heute „unwirklich"; die Ausgänge des Daseins zur Transzendenz scheinen versperrt. Die überlieferten Formen und Formeln assoziieren sich kaum mit gegenwärtigen Erfahrungen; Modernisierungen erscheinen ein Notbehelf zu sein. Zwei Versuchungen, außer der zur offenen oder lautlosen Emigration, legen sich nahe. Die Reduktion des Religiösen aufs Mitmenschliche, die Erklärung der Horizontalen zur einzigen Richtung des Daseins ist die eine. Die Problematik solcher Verkürzung wird verhältnismäßig rasch offenbar, und heute führt sie nicht selten zur Auswanderung nach innen, zum Versuch einer neuen Innerlichkeit, die aber, wenigstens in vielen ihrer Zeugnisse, Transzendenz mit der Mutation eigener Möglichkeiten radikaler Immanenz im Ich verwechselt. Wird nun aber christlicher Glaube von seiner inneren Struktur her gesehen und gelebt, so erschließt sich in ihm eine Möglichkeit, die den Bann in die bloße Horizontale ebenso wie den Verlust des Welthaften auf der Flucht nach innen durchbricht. Jawohl, Gott begegnet uns in der Horizontalen, er begegnet uns in Jesus, der einer von uns geworden ist und der uns auf seinen Weg zum Letzten und Geringsten mitnimmt. Er begegnet uns im Menschen, mit dem er sich identifiziert hat, er begegnet uns in den hoffnungslosen und absurden Situationen des Daseins, die er in sich selbst übernommen hat, und so kann er uns auch in seinem Wort und in der Gemeinde derer begegnen, die sich von sich her genauso armselig und ratlos wie [89] wir alle auf sein Zeugnis eingelassen haben. Doch wer ihn sieht, der sieht nicht nur Programme und Projektionen, der sieht aber auch nicht nur sich selbst und seine Misere im Spiegel eines edlen menschlichen Mitleids, wer ihn sieht, der sieht den Vater. Er wird eingeladen im Glauben an eine unbedingte Liebe, diese Liebe mitzutun, diese Liebe „mitzusein“ und darin ja und du zu sagen zu dem, der unerdenklich und unerschwinglich Liebe ist. Das aber ist Weg über alle erfahrbare Wirklichkeit hinaus und gerade darum Weg in die erfahrbare Wirklichkeit hinein.