Ideologiekritik und christlicher Glaube

Christlicher Glaube und Ideologie*

Was heißt das für den christlichen Glauben und die Theologie?

Es heißt zunächst dies. Die Texte, die der Glaube als Zeugnisse der Offenbarung Gottes versteht, die Kirche, die der Glaube als das Volk Gottes versteht, Mensch und Welt, die der Glaube als von Gott geschaffen und erlöst versteht, sie unterliegen den allgemeinen und kontrollierbaren Bedingungen jeglichen Vorkommens. Es wäre verkehrt, sie dem aufklärenden Zugriff der Wissenschaften zu entziehen und ihnen die funktionale und genetische Verflechtung mit allen immanenten Gegebenheiten abzusprechen oder über diese Verflechtung zu erschrecken. Diese Verflechtung ist sogar theologisch relevant; denn in der Theologie geht es doch um das Sich-Einlassen Gottes in die Endlichkeit und mit der Endlichkeit, um das, was der Glaube die Incarnatio Verbi nennt. Es [26] wäre aber ebenso verkehrt, von der immanenten wissenschaftlichen Aufklärung der funktionalen und genetischen Zusammenhänge den positiven Erweis dessen zu erwarten, daß Gott und seine Offenbarung und sein Heilswirken hier im Spiele seien.

Freilich ergibt sich aufgrund des über Ideologiekritik und ihre Fundamente Ausgeführten eine weitere Konsequenz: Dort ist Ideologie zu vermuten, wo etwas innerhalb einer Deutung von Welt und Dasein im ganzen nicht mehr sein darf, was es ist, wo seine immanente Phänomenalität verkürzt und verbogen wird. Nun ist gerade von hier her die Botschaft des Christentums wesentlich unideologisch: Welt und Mensch sind gerade freigegeben an sich selbst, indem sie von Gott geschaffen und erlöst sind, und indem die Liebe das Gebot des Christentums ist, sind sie nicht nur auf Gott, sondern auch auf uns zu anheimgegeben der bejahenden und alles, was ist, wahrenden und steigernden Annahme ihres Seins. Alles, auch das Dunkle und Fragwürdige, darf aufgehen als es selbst im Licht christlicher Botschaft. Gleichwohl laufen auch Glaube und Theologie immer wieder Gefahr, in der Ausbildung von Programmen und Systemen deutende Verengungen in ihren Ansatz einzutragen. Dies ist bei der endlichen Verfaßtheit allen menschlichen Sehens und Sagens unvermeidlich. Hier wachsam und behutsam über die jeweilige geschichtliche Verengung in die Weite des Ursprungs hinauszufragen, dabei aber auch um die beständig drohende Verengung des eigenen Hinausfragens zu wissen, ist eine – wenn man so will: ideologiekritische – Aufgabe der Theologie.

Sie muß hierbei allerdings stets das Eine und Wesentliche im Auge behalten: Theologie ist nicht schon von daher Theologie, daß sie die Formen und Formeln des Glaubens nur so befragt wie irgendeine der Wissenschaften, deren sie sich methodisch zu bedienen hat. Dies muß sie selbstverständlich in aller Sauberkeit und Durchsichtigkeit tun. Theologie ist sie aber erst von daher, daß sie offen ist aufs Zeugnis der Offenbarung hin. Nur von der genuinen Eigenart dieses Zeugnisses her und auf sie zu, nur in der Gemeinschaft mit diesem Zeugnis und jenen, denen es Zeugnis ist, hat ihre kritische Funktion einen Sinn und ein Koordinatensystem. Theologie brächte sich also um sich selbst, wo sie sich um den Glauben brächte, dem allein das Zeugnis der Offenbarung sich als solches erschließt.

Auf die Frage, weshalb der christliche Glaube keine Ideologie sei, haben wir bislang erst eine negative Auskunft gegeben. Wir sagten: Die Grundaussage [27] christlichen Glaubens vermindert nicht, sondern sie gewährt und steigert den unverstellten Aufgang dessen, was ist, von sich selber her. Eine religions-philosophische Besinnung über Ideologiekritik und christlichen Glauben darf über dies hinaus noch darauf hinweisen, daß der Grund christlichen Glaubens von seinem Wesen her das positive Gegenteil zur Ideologie bedeutet. Der Grund einer Ideologie ist ein wollendes Interesse, das sich in eine Gedankenfigur verfaßt und verkleidet. Der Grund christlichen Glaubens ist eine Person, ein lebendiges Du, das von sich her spricht, handelt und begegnet, nicht ein zusätzlicher Gedanke zur Wirklichkeit, sondern selbst lebendigste und wirklichste Wirklichkeit: ein Du. Gewiß, von diesem Du fällt Licht auf alles, im Lichtkreis dieses Du erhält alles seine Deutung und Bedeutung. Aber dieses Du ist nicht das Du einer verengenden Selbstbehauptung, sondern es ist das Du der seinlassenden Hingabe für alle, der großen Einräumung des Lebens und der Freiheit und der Liebe für alle angesichts der Verengung von Tod, Schuld und Streit.

Wenn es dem christlichen Glauben nur um die „Idee“ Jesus zu tun wäre, so könnte er eine Ideologie werden; wenn es ihm um Jesus Christus zu tun ist, dann gerade nicht. Darum also geht es im Zeitalter der Ideologiekritik, daß das Zeugnis der Kirche in der Welt mit dem Zeugnis des Paulus vor der Gemeinde von Korinth übereinstimme. „Ich hielt dafür, nichts anderes unter euch zu wissen als Jesus Christus, und ihn als den Gekreuzigten“ (1 Kor 2,2).