Theologie als Nachfolge
Christus als Mitte, Mitte als Anfang
Unsere Frage nach Bonaventuras Ansatz der Theologie hat eine vielgestaltige Antwort erfahren. Er selbst konzentriert diese Vielgestalt in eine einzige Formel hinein. „Wo muß man anfangen?“ Darauf erwidert er sich selbst: „Aus der Mitte, und das heißt aus Christus. Wird diese Mitte außer acht gelassen, so entgleitet alles.“1 Diese Auskunft steht nicht beziehungslos neben der bislang leitenden, daß der Ansatz der Theologie Ansatz des Wortes, Ansatz zum Hörer des Wortes, Ansatz zur Kirche hin sei. Vielmehr ist es derselbe Atemzug, in dem Bonaventura beide Fragen stellt [60] und beide Antworten gibt: in der Einleitung zum Hexaemeron. Bereits die Erörterung des Geschehens von Kirche hat uns auf ihre lebendige Mitte, auf das Wort in seiner dreifachen Stellung als Gesetz, Friede und Lob aufmerksam gemacht, und hierbei ging uns auf, daß dieses selbe Wort aus verschiedenem Ursprung und in verschiedener Position das Geschehen zentriert: Wort ganz und allein von Gott her, Wort zwischen uns, Wort aus unserer Mitte hin zu Gott. Diese Stellungen hat Bonaventura auch im Auge, wenn er für das Wort nun Christus selbst einsetzt und aufweist, daß er die Mitte und als solche der Anfang theologischen Denkens ist.
Die vielen Bewegungen, die wir, den Ansatz Bonaventuras entfaltend, zugleich in den Blick nehmen mußten, um sein beziehentliches Geschehen nicht zu verfehlen, Abstieg und Aufstieg, Gabe und Anrufung, Erleuchtung und Weg in sein Licht haben einen einzigen Namen, eine einzige Gestalt: Christus. Er ist der, in dem Gott kommt, und er ist der, in dem wir zu Gott kommen. Durch ihn ist uns der Friede angesagt, durch ihn rufen wir den Vater an. Er ist mit seinem Sein, mit seinem Leben, Sterben und Auferstehen der lebendige Ruf zur Nachfolge, ja er ist selbst das Geschehen der Nachfolge, und dies in einem doppelten Sinn: Sein Leben ist vollzogener Wille des Vaters, vollzogene Antwort, und indem er unser Weg wird, indem wir ihm nachfolgen, werden wir umgestaltet in ihn, Nachfolge „macht“ uns zum lebendigen Christus. Solches könnte aussehen wie bekrönende Spekulation, wie Zusammenführen vieler Linien in einen nachträglich erreichbaren Konvergenzpunkt – für Bonaventura ist es der Ursprung schlechthin: Nur in Christus springt Gott über sich hinaus in unsere Wirklichkeit hinein, nur in ihm springen wir über uns hinaus zu Gott hin, nur in ihm kommen wir so zueinander und zur Welt, daß darin der Friede Gottes als Sinn des Miteinander und der Welt entborgen wird. Und so ist diese Mitte in der Tat der Ansatz Bonaventuras. Umgekehrt ist für ihn Jesus Christus aber auch nicht nur ein bloßer Fixpunkt des Glaubens, zweite Person der Dreifaltigkeit plus angenommene Menschennatur, Gottmensch in sich plus Ak- [61] teur der Erlösung, sondern er ist: Ansatz, Ereignis, sein Sein ist zugleich Geschehen, Weg vom Vater und zum Vater, Übersetzung Gottes zum Menschen und des Menschen zu Gott. Das kommt nicht zuletzt in dem von Bonaventura bevorzugten Titel der ars aeterna, jener Kunst Gottes zum Vorschein, die als Kunst Ursprung, Gestalt und Geschehen in einem ist. Wir können Christus, denkend und glaubend, nicht berühren, ohne von ihm in jene Bewegungen des Lebens und Denkens hineingenommen zu werden, die in ihm sich kreuzen, ja entspringen. Die Ausfaltung des Anfangs bei der Mitte im Hexaemeron2 macht uns dies deutlich: Die Mitte, die Christus ist, wird von der ewigen Zeugung bis hin zur ewigen Vollendung durch alle Stationen seiner „Geschichte“ durchkonjugiert, und die verschiedenen Bereiche des Seins und Wissens werden auf die verschiedenen Positionen dieser Geschichte hin gelesen. Ähnlich wird in De reductione artium ad theologiam das Geschehen geschöpflicher Produktivität und Erkenntnis auf das Christusgeschehen hin gedeutet.