Theologie als Nachfolge

Christus Mitte aller Wissenschaft

Tiefer in die inhaltliche Problematik menschlichen Wissens und seinen Zusammenhang mit der Botschaft von Jesus Christus führt uns der Abschnitt des Hexaemeron über Christus als die Mitte der Wissenschaften.1 Die formale Orientierung erschließt wiederum das Interesse, das Bonaventura bei seinem kunstvollen, nur scheinbar künstlichen Aufriß leitet.

Bonaventura nimmt sieben Wissenschaften in den Blick, die in ihrer Abfolge einen Weg markieren:2 Metaphysik; Physik (Naturwissenschaft im ganzen); Mathematik (vor allem als Geometrie); Logik (einschließlich der Lehr- und Überzeugungskunst); Ethik; Politik mit Rechtswissenschaft; schließlich Theologie. Metaphysik, Theologie und Logik, der Anfangs-, End- und Mittelpunkt dieser Reihe, strukturieren das Ganze, sie leisten Grundlegung, Ziel und Vermittlung des Wissens überhaupt. Wird die Reihe als Kreisbewegung gelesen, so bezeichnen Metaphysik und Theologie den obersten Punkt, der das eine Mal Ausgangs-, das andere Mal Endpunkt ist; Logik den untersten Punkt als den des Umschlags zum Wiederaufstieg. Auf der absteigenden Hälfte der Kreisbewegung sind die Wissenschaften situiert, die sich mit dem Äußeren bzw. Ausgedehnten, mit den Gegenständen beschäftigen: Physik und Mathematik. Auf der ansteigenden Hälfte der Kreisbewegung sind die praktischen, aufs menschliche Verhalten und die menschliche Gemeinschaft bezogenen Wissenschaften situiert: Ethik sowie Rechts- und Staatskunst.

Typisch für die Sicht der einzelnen Wissenschaften ist nun, daß sie auf eine immanente Mitte und auf eine transzendierende Mitte hin gelesen werden. Die immanente Mitte zentriert den Bereich, das Feld der jeweiligen Wissenschaft auf eine Grundeigenschaft, die durch eine Grundbewegung erreicht oder vermittelt wird. Die transzendierende Mitte ist jeweils Christus in einer seiner heilsgeschichtlichen Positionen. Diese heilsgeschichtlichen Positionen beschreiben ihrerseits dieselbe Kreisbewegung wie die Wissenschaften: Christus ist Mitte der Metaphysik in seiner ewigen Zeugung, der Physik in seiner Menschwerdung, der Mathematik in [125] seiner Passion, der Logik im Wendepunkt der Auferstehung, der Ethik in seiner Himmelfahrt, der Rechts- und Staatskunst im künftigen Gericht, der Theologie in der ewigen Beseligung. Machen wir nun noch die Bereiche der einzelnen Wissenschaften und ihre jeweilige immanente Mitte namhaft. Der Bereich der Metaphysik ist der des Seins, seine Mitte ist das Erste, die zugehörige Bewegung die ewigen Ursprungs. Der Bereich der Physik ist jener der Natur, seine Mitte ist das Starke (pervalidum), vermittelt durch den Ausstrom der Kräfte. Der Bereich der Mathematik ist der des Abstands, der Ausdehnung, seine Mitte ist die Tiefe, vermittelt in der Bewegung zentrifugaler und zentripetaler Position. Der Bereich der Logik ist jener der Lehre, des Sprechens, seine Mitte ist das überzeugend Klare, vermittelt in der Bewegung rationaler Offenlegung. Der Bereich der Ethik ist der des sittlichen Maßes, seine Mitte ist das je Bessere, vermittelt in der Bewegung sittlichen Wählens. Der Bereich von Recht und Politik ist Gerechtigkeit, seine Mitte das Erhabene, vermittelt durch die Bewegung richterlichen Wägens. Der Bereich der Theologie ist die Eintracht, ihre Mitte der Friede, vermittelt in allumfassender Versöhnung. Was steht hinter solchen Zuordnungen? Die dynamische Ordnung des Ganzen in eine einzige Bewegung des Ab- und Aufstiegs, der Zusammenhang aller Bereiche und Wissenschaften weist auf die Überzeugung Bonaventuras hin, daß es in jedem, auch in jeder Wissenschaft, ums Eine, ums Ganze geht. Ein bloßes sektorenhaftes Nebeneinander ohne Beziehung ist dem nicht denkbar, der alles, der die Welt auf die Weise des Weges, des Aus- und Heimgangs ermißt. Einzelne Bereiche sind Wegbereiche, Wissenschaften sind jeweilige Umschau im Horizont des Ganzen. Dennoch fließen die Stationen, Horizonte und Perspektiven nicht beliebig ineinander über; in der Bewegung des Ganzen bilden sich unterscheidbare Bereiche heraus, die ihre Kontur durch eine je eigene Gangart, durch ein je eigenes Verhältnis zum Ganzen, die somit auch einen je eigenen Schwerpunkt erhalten. Dieser Schwerpunkt ist Qualität, Wissenschaft ist Entfaltung von Qualitäten. Solche Qualitäten aber sind Weisen der Anwesenheit des Ganzen im Teil, im Bereich. Wodurch aber ist das Ganze anwesend? Nicht einfach [126] durch eine formale Generalisierbarkeit der jeweiligen Methode, der jeweiligen Hinsicht auf alles, was ist; vielmehr dadurch, daß es in allem um den Menschen geht, daß alle Bereiche menschliche Bereiche, ja sogar: den Selbstvollzug des Menschen auslegende und bestimmende Bereiche sind. Man könnte von einem „anthropomorphen“ Weltbild sprechen, aber ist solcher Anthropomorphismus Relikt eines überwundenen oder nicht eher Vorbote des heutigen Weltbilds? Diese menschliche Relevanz eines jeden Bereichs wird bestätigt und über sich hinaus gesteigert durch die transzendierende Mitte einer jeden Wissenschaft, durch Jesus Christus. In ihm wird die Dreipoligkeit, die als zur Welt gehörend uns bereits auffiel, ausdrücklich eingetragen in die Konstitution der Wissenschaften: Indem sie Dimensionen der Welt zum Menschen und Dimensionen des Menschen in die Welt hinaus artikulieren, artikulieren sie auch den Bezug von Welt und Mensch zu Gott, von Gott zur Welt und zum Menschen. Bemerkenswert, daß sich in diesem Zusammenhang Bonaventura gerade nicht mit einer metaphysisch-kosmologischen Christologie begnügt. Der Weg der Welt und der Weg durch die Wissenschaften wird ein Weg nicht nur von Christus her und auf ihn hin, sondern er wird zum Weg mit dem Weg Christi. Die heilsgeschichtlichen Differenzen, die Christus je anders als Mitte in die einzelnen Wissenschaften einweisen, entstammen nicht nur mittelalterlicher Erzählfreudigkeit, sondern sie drücken den je konkreten Bezug der in den einzelnen Wissenschaften reflektierten Lebensräume zum Gott-Menschen aus.


  1. Vgl. Hexaemeron I, 10–39. ↩︎

  2. Vgl. hierzu und zum folgenden Hexaemeron I, 11. ↩︎