Das Neue ist älter

Das „Älteste“und „Neueste“im Herzen Gottes

Versuchen wir von einem scheinbar abseitigen Punkt aus den Einstieg in die Sicht des Glaubens und der Theologie, die Hans Urs von Balthasar erschließt: Das Neue ist älter. Im alten Hymnus zur Vesper des Himmelfahrtstages „Jesu nostra redemptio“ – seine Wurzeln reichen bis ins zweite Jahrhundert zurück – geben uns einige knappe Formulierungen zu denken. Sie erscheinen zunächst nur als poetisch – aber warum soll das Poetische nicht theologisch sein? Und wenn sie also theologisch sind, dann reißen sie dem Denken einen neuen Horizont auf. Wir lesen die zwei Worte vincere (siegen) und cogere (zwingen) in einem befremdlichen Kontext: „Quae te vicit clementia, ut ferres nostra crimina.“ Was für eine Milde hat dich, Jesus, besiegt, daß du unsere Schuld getragen hast? Und es wird die Bitte formuliert: „Ipsa te cogat pietas.“ Es soll dich diese Milde zwingen. Nun weiß jeder theologisch einigermaßen Informierte, daß Gott nicht gezwungen und besiegt werden kann. Und eindeutig steht Jesus als der Sohn Gottes in diesem Hymnus vor uns. Die erlösende Liebe Gottes in Jesus wird gepriesen als etwas, das stärker ist als er, als der Sohn Gottes. Was kann stärker sein als Gott? Um auf dieser Sprachebene zu bleiben: Was „stärker“ ist in Gott, das ist „älter“ in Gott, das ist göttlicher. Wir sind also aufgefordert, hinter das theologisch Richtige und Gesicherte, das wir schon kennen, in einen noch tieferen Grund hineinzufragen und Gott noch innerlicher von sich selbst, von seinem Eigensten her, als Ursprung, als Quelle zu verstehen. In Gott ist etwas noch „älter“ als seine Unbezwingbarkeit und Unbesieglichkeit, und dieses Ältere ist zugleich das, was die [83] Neuigkeit, das Neue Gottes trägt und ausmacht. Diesem Neuen begegnen wir in seiner erlösenden Liebe: Gott bleibt nicht in seinem Himmel, Gott erschöpft sich nicht darin, unbeweglicher Beweger zu sein. Gott gibt sich selbst hinein in das Spiel unserer Geschichte, er macht sich sozusagen die Hände schmutzig mit uns, er nimmt das Unsere an, trägt uns, wird einer von uns. Diese Neuigkeit Gottes ist nach Ausweis des Hymnus das Ältere in Gott; denn er ist zur Liebe von seiner eigenen Liebe genötigt und gezwungen. Genötigt und gezwungen von dem, was er selber ist; denn Nötigung und Zwang in ihm, das kann nur heißen: freieste Konsequenz der Freiheit, die er selber ist. Diese seine Freiheit aber, die zugleich er selber, sein Wesen ist, sie ist: Liebe.