Das Heilige und das Denken

Das Auseinander von Denken und Heiligem

Was immer Denken heißt und was immer es unter dem Heiligen versteht, dies läßt sich im anfänglichen Hinblick des beiden aufeinander sehen: Wo Heiliges unmittelbar aufgeht, da ist die spontane Antwort des Vollzuges auf diesen Aufgang nicht ein als solcher sich ausdrücklicher Gedanke. Gewiß ist der Gedanke dabei: Hier ist Heiliges! Doch er wird als Gedanke gerade überschattet und verzehrt von der Anwesenheit des übers Denken hinausrufenden Heiligen.

Umgekehrt gilt Entsprechendes: Denken ist als Denken gerade darauf aus, zu durchdringen und zu erklären, was ist, nicht ein ihm Entzogenes zu vermuten, vor dem sein wissenwollender Ausgriff zum Stehen käme, sondern nicht zu ruhen, bis alles von ihm gesichtet und als Gedachtes des Denkens diesem anverwandelt wäre.

Doch damit ist vom Denken und vom Heiligen schon gesagt, was erst durch die behutsame Frage, was je jedes heiße, zu erheben ist. Das anfänglich gewahrte Auseinander von Denken und Heiligem weist das Denken zurück an die Pole seiner Spannung; es gilt, allererst sie selbst in den Blick zu bekommen.

Soviel steht vom Denken schon fest: Was das Denken denkt, das ist sein Gedachtes, aber es ist gedacht als etwas, das „ist“, als gedacht behauptet es an sich und unmittelbar, zu sein, als was es gedacht ist.

Auch der spielende, dichtende, irrige Gedanke ist nur darin [15] spielend, dichtend, irrig, daß er in der hiermit je genannten Weise seinen Inhalt als seiend meint. Denken setzt nicht nur Gehalte, sondern indem es sie denkt, meinen sie und meint es mit ihnen das, was ist, was, sofern es aber ist, nie bloß gedacht ist. Nur das nicht bloß Gedachte ist das eigentlich Gedachte.

Wollte Denken sich daranmachen, alles, was es denkt, als nur gedacht zu denken, so dächte es gerade: Mein Gedachtes ist nichts anderes als eben gedacht. Im Denken ginge also gleichwohl gerade das auf, was das Gedachte übers Denken hinaus ist.

Kann Denken aber nicht von diesem Seinsbezug seiner selbst einfachhin absehen? Auch das Absehen sähe es ab auf das, was in seinen, des Denkens, Gehalten an sich selbst als seiend erscheint, auch das Verweilen des Denkens in seinem bloßen Was verweilt bei dem, was als Was hinblickt auf das, was es sein kann und, als solches, eben ist.

Denken scheint einerseits nie über sich hinauszukommen: Alles, was es denkt, ist je gedacht. Andererseits vermag es nie hinter sein Übersichhinaussein zurückzukommen: Seine Gehalte meinen immer, was ist und insofern das bloße Gedachtsein übertrifft.

Was das Denken denkt, ist also zugleich „unter“ dem Denken, seinem Fassen unterworfen, und doch gerade als gedacht dem denkenden Fassen dahinein entwunden, auf irgendeine Weise: zu sein.

Es ist die innere Herrscherlichkeit fassenden Denkens, zu wissen: Jetzt habe ich es, habe ich, was das – ist, also vor und insofern über meinem Fassenkönnen ist. Es „erbeutet“ das, was ist, bringt es in und unter sich und bezeugt so gerade sein Erbeutetes, das, was ist, als das ihm Unselbstverständliche, Frühere, erst Zukommende.

Noch schärfer tritt das hervor, wo das Denken, um sich selbst zu erhellen, sich in die Frage ruft: Ist es auch so, wie ich es denke? Denken lebt durchgängig aus der Beunruhigung von dem, was ist. Anders gesagt: Es lebt aus der Frage, in der es sich in sich zurück und dadurch zugleich über sich hinaus beugt. Soviel also steht im vorhinein vom Denken fest: Es ruht nicht in sich, sondern ist wesenhaft ausständig auf das, was ist. Im „ist“ [16] des Denkens verschränkt sich aber ein Doppeltes: Das, was gedacht ist und als gedacht eben ist, trägt in diesem „ist“ den Prägestempel herrscherlichen Denkens, es ist vom Denken bewältigt und ihm untertan, doch weil und sofern es ist, ist es immer auch dem Denken voraus und entwunden, im Gedachtsein mehr als Gedachtsein. Im Jakobskampf des Denkens mit dem Sein obsiegt das Denken nur, sofern es sich verwunden und segnen läßt vom Sein, sofern es sein Denk-Mal also in sich bewahrt.

Wieviel aber, so heißt es nun zu fragen, steht im vorhinein vom Heiligen fest?

Diese Frage trifft das Denken anders als die zuvor aufgeworfene, wieviel vom Denken im vorhinein feststehe. Denken entfaltet sich selbst, wenn es sich bedenkt; es braucht nichts als seinen eigenen Vollzug, d. h. die selbst vollzughafte Zukehr zu diesem seinem Vollzug, um an ihm abzulesen, was es vom Wesen her und insofern also „im vorhinein“ sei. Das Heilige ist dem Denken hingegen nicht einfachhin als dasselbe seiner selbst und seines Vollzuges gegeben. Das Denken vermag nicht in der unmittelbaren Zukehr zu sich allein den Gehalt dessen zu erheben, was „heilig“ meint. Es muß also von seinem reflexiven Anfang wegblicken, sich an Situationen seines von sich abgewandten Vollzuges erinnern, die es etwas als heilig gewahren ließen, und dann wieder in seinen reflexiven Anfang einkehren, um ihn nach einer in ihm etwa verborgenen Richtungnahme auf ihm Heiliges hin zu befragen.

In welche Richtung also ist das Denken gewiesen, wenn es sich selbst nicht thematisierend, sondern einen Daseinsvollzug artikulierend, ihn auf Heiliges hin versteht?

Diese Frage mag wie eine Untreue zu dem Vorsatz einer philosophisch, also im Medium des sich hellen Denkens zu gewinnenden Phänomenologie des Heiligen erscheinen. Sich helles Denken weiß aber um seine Bezogenheit auf das, was ist, um sein Über-sich-Hinaussein, ohne das es nicht in sich wäre. Das Insichsein des Denkens ist das Insichsein seines Übersichhinausseins. Das heißt: Denken befaßt sich thematisch nie nur mit sich, sondern je mit [17] dem, was ist. Es heißt zugleich noch mehr: Denken geschieht auch energetisch nicht als eine Ablösung vom „wirklichen“ Bezug zu dem, was ist, sondern es ist gerade dort für sich selber hell, wo es sich als die Helle dieses wirklichen Bezuges weiß, wo es dieses Wirklichsein des Daseinsbezuges nicht außerhalb seiner selbst unbedacht, sein Denken also im Unwirklichen läßt. Denken darf sich nicht damit begnügen, zu denken, was ist, es muß sein Denken dessen, was ist, auch sein; denn nur so denkt es sein zu Denkendes ganz.

Die Richtung, in welcher der Sinn des Heiligen liegt, kann das Denken, um seiner selbst und um des Heiligen willen, also nicht erstellen, es muß sie vernehmen, vernehmen aber, indem es sich vernimmt aus dem ursprünglich auf Heiliges ausgerichteten Daseinsvollzug. Dieser findet sich dort aufs Heilige bezogen, wo er aus seinem verfügend-bestimmenden Umgang mit dem, was ist, und dem, was er will, herausfällt in eine ihn durchdringende Betroffenheit. Als Heiliges geht ihm auf das ihn zuinnerst Berührende und zugleich von ihm nicht durch Gewalt oder Verbot, sondern von seinem Rang und Wesen her Unberührbare. Nur vor solchem hätte die Rede vom „Heiligen“ einen Sinn.

Das nur Entzogene, Überlegene, das beziehungslos neben dem Dasein aufragte, wäre ihm sowenig heilig wie das nur in ihm sich Erschöpfende, von ihm Verfügte und Vermochte. Selbst wo Denken oder Dasein ihr sich und alles in sich selber schließendes Selbstgeschehen, ihre All-Einheit postulierten und als das schlechthin Heile und Heilige feierten, hätte das Wort „heilig“ nur Sinn, sofern es darin auf eine unerschöpfliche Fülle wiese, d. h. auf eine, die sich nie in ein plattes Dahaben bemächtigenden Zugriffes gäbe, sondern im Sich-haben sich je zugleich doch bevorstände, als anwesend immer auch noch entzogen und nur als auch noch entzogen, als künftig, beseligend anwesend wäre. Das Heilige schließt sein von dem Vollzug, dem es heilig ist, verfügtes Präsens aus. Es ist, phänomenal, um so heiliger, je mehr es allein aus seiner eigenen Entzogenheit heraus präsentisch wird.

[18] Aus diesem allgemeinsten Vorblick wächst von allein dem sich hellen Denken ein Wissen darum zu, wie das sein müßte, das ihm heilig zu sein vermöchte – philosophische Phänomenologie kommt in ihr Feld, das des sich als Denken gegenwärtigen Denkens, zurück. Nur von dem kann es sagen: Dies ist heilig!, was ihm sein Istsagen gerade verschlägt.

Im „ist“ geht gewiß auf, was ist, aber es geht auf, indem es sich feststellen läßt, unter die fassende, ortende, in der ortenden Fixierung entzaubernde, „unschädlich“ machende Macht des Denkens gerät. Jenes, dessen Aufgang aus sich selbst gerade nicht einginge in die fassende Herrscherlichkeit des Denkens, jenes, das gerade nicht im „ist“ sich erbeuten ließe vom Denken, jenes, das sich von sich her als dem „ist“ unangemessen zeigte, nur jenes würde vom Denken als das Heilige verstanden.

Wohl werden wir nicht um das „ist“ herumkommen, wenn wir Heiliges zur Sprache bringen, und es gehört wesenhaft zur Begegnung mit dem Heiligen, sie zu „orten“: Hier ist Heiliges mir begegnet. Doch dieses „ist“ ortet nicht das Heilige als ein umfaßbares, ins größere Ganze des Auskennens integrierbares Etwas, sondern ortet die „Verwundung“, die dem denkenden Vollzug vom Heiligen her widerfährt, und ihr „ist“ begreift nicht ein, es sondert aus, ist ein reziprokes „ist“.

Das Heilige „ist“ also das Gegenteil des Denkens; denn Denken ist in seinem unmittelbaren Zugriff gerade darauf aus, nichts „heilig“ sein zu lassen, alles fragend zu erklären, also einzubringen in seine, des Denkens durchdringende Klarheit. Das Heilige ist damit zugleich aber auch die Engführung und Eigentlichkeit des Denkens; denn Denken ist ja Denken gerade auf jenes hin, was nur dann dem Denken aufgeht, wenn es nicht darin aufgeht, nur sein Gedachtes zu sein.

Das Heilige überholt das „ist“ nicht von der Seite des Denkens, so daß sein Bezug aufs Sein als das andere seiner unerfüllt ausfiele, Denken also zur freischwingend beziehungslosen Figur in sich selbst würde; das Heilige überholt das „ist“ vielmehr auf der ent- [19] gegengesetzten Seite, auf der Seite dessen, was ins Denken hinein aufgeht: es übertrifft die fassende Kraft des Denkens nicht graduell, sondern wesentlich, so, daß das Denken nur in der Anerkenntnis dieses seines Versagens mit sich und dem Aufgehenden eins zu werden vermag. Heilig ist nicht jenes, vor dem das Denken „noch“ oder faktisch auch „immer“ zu klein bleibt, es ist jenes, was dem Denken als das ihm je Inkomparable offen ist, Denken ist seine sich selbst helle Unangemessenheit ans Heilige.

Von dem im Denken sich verfassenden bzw. eben nicht verfassenden Aufgang des Heiligen her gesagt: Das Heilige ist das nicht mehr und darin gerade das schlechthin sich Zeigende. Es zeigt sich nicht mehr, sofern das, was sich zeigt, darin doch auch ein denkend Gefaßtes, Fixiertes, im Zukommen zum Denken also zugleich ein vom Denken Hervorgebrachtes und Vermochtes ist; es zeigt sich schlechthin, sofern „alles“ in seinem Aufgang an ihm selber liegt, das Denken seiner inne nichts mehr von sich selbst in der Hand hat und alles, was ihm an fassenden Bestimmungen einfällt, zugleich auch verwirft, selbst verstummend in die reine Hingerissenheit.

Doch nur dann ist in ihr das Denken dem Heiligen wahrhaft begegnet, dem Heiligen nämlich, das ihm selber heilig zu sein vermag, wenn das Denken es sich nicht wie von außen einfallen ließ: Jetzt wird nicht mehr gedacht, jetzt wird umgestiegen in eine andere Weise des Vollzugs! Denken muß vielmehr, weil und indem es dachte, innegeworden sein, in der Achtsamkeit auf das, was sich ihm zeigt, und darin zugleich in der Achtsamkeit auf sich selbst: Hier bin ich am Ende, hier ist in mir das mich überwindende Andere meiner, das mir mich und mein verfügendes Istsagen von sich her und darum gerade auch von mir her aus der Hand nimmt!

Wie aber ist solches möglich: ein Zugleich von Dabeisein und Sichaufgeben des Denkens im Denken, und so gerade Ankunft des Denkens auf dem Boden des Heiligen?